Narrenmond
Nachdem sie ein kleines Loch in die Eisdecke geschlagen hatte, tauchte Dinka ihren Wasserschlauch behutsam in das munter vor sich hin plätschernde, eiskalte Wasser des kleinen Bachs. Von manchen wurde der Februar auch ‚Taumond‘ genannt, doch davon konnte in diesem Jahr keine Rede sein. In den ersten beiden Wochen war sie gut vorangekommen, nachdem sie beschlossen hatte, die üblichen Reisewege zu meiden. Ein paarmal war sie nur knapp der Aufmerksamkeit einiger Wegelagerer entgangen, und da sie wusste, in welche Richtung ihre Reise gehen musste, schlug sie sich nun quer durch die Wildnis. Seit sie laufen konnte, hatte sie sich immer wieder an die Fersen des eigenbrötlerischen Kerrt geheftet, der sich wie kein anderer im Wald auskannte. Er war ein geduldiger Lehrer, der sich darüber freute, sein Wissen an jemanden weitergeben zu können – selbst wenn es nur ein Mädchen war. Allein dank seiner zahlreichen, mitunter recht harten Lektionen hatte sie dem erneuten Wintereinbruch trotzen können, als Schneesturm und Eiseskälte ein Weiterkommen unmöglich machten. Im Schutz einiger Tannen hatte sie sich einen Unterschlupf geschaffen, den der fallende Schnee dann gegen den beißenden Wind abdichtete. Wie ein Bär im Winterschlaf hatte sie versucht, sich möglichst wenig zu bewegen und viel zu schlafen. Jetzt war sie einfach nur froh, wieder unter der fahlen Wintersonne unterwegs sein zu können.
Sie richtete sich auf und ließ den Blick in die Runde schweifen, während sie sich die Handschuhe über die eiskalten Finger zog. Die an sich kahlen Äste der Laubbäume bogen sich unter der weißen Last, die Dunkelheit der Tannen wurde durch den Schnee gemildert, und es schien ihr, als wäre sie das einzige Lebewesen auf Erden. Was natürlich nicht stimmte; das bewiesen all die verschiedenen Fährten, die ihren Weg kreuzten. Dinka rückte den Wasserschlauch zurecht und setzte sich in Bewegung. Kurz darauf stieß sie auf einen Wildwechsel, der haargenau in die richtige Richtung führte, was ihr einen dankbaren Seufzer entlockte. Es war so viel leichter, diesem ausgetretenen Pfad zu folgen, als sich durch kniehohe Schneewehen zu kämpfen.
Sie kam gut voran, die Bewegung und die vorwitzigen Sonnenstrahlen vertrieben die Kälte der letzten Tage aus ihren Knochen. Ihre Gedanken schweiften ab, als sie versuchte, auszurechnen, wie viele Wochen sie noch bis zu ihrer Tante brauchen würde. Die Vorräte waren klug zusammengestellt, doch durch die aufgezwungene Rast hatte sie mehr verbraucht, als ihr lieb war. Im Sommer hätte sie diese mit Hilfe ihres Wissens mühelos auffüllen können, doch jetzt…
Eine Brombeerranke, die unter dem losen Schnee verborgen gelegen hatte, bohrte ihre spitzen Stacheln in ihren Stiefel, hielt ihn fest und brachte Dinka zum Straucheln. Verdammt! Wenn Kerrt das gesehen hätte, wäre wieder ein Vortrag über Tagträumer fällig gewesen! Und über all die Gefahren, die auf diese lauerten. Sie zerrte ihren Fuß aus der störrischen Umklammerung, wobei sie sich auf dem Pfad einige Schritte rückwärts bewegte. Als der Boden unter ihrem hinteren Fuß nachgab, versuchte sie instinktiv, sich nach vorne zu werfen, doch es war bereits zu spät. Mit einem lauten Krachen und Knacken stürzte sie in die Tiefe, wo sie so heftig auf dem Rücken landete, dass es ihr erst einmal den Atem verschlug. Vorsichtig richtete sie sich auf, Stück für Stück, wobei sie dankbar festgestellte, dass ihr zwar jeder einzelne Knochen wehtat, aber keiner davon gebrochen zu sein schien. Die Erleichterung schwand allerdings sofort, als sie sich genauer umsah. Eine alte Bärenfalle! Hektisch suchte Dinka die hohen, glatten Wände aus festem, gefrorenem Erdreich ab, doch nur weit oben und damit außerhalb ihrer Reichweite ragten ein paar schwache Wurzeln heraus. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, sich an den Wänden hochzuziehen, hockte sie sich in eine der Ecken. Niemand wusste, wo sie war, und niemand würde diese Falle mitten im Winter kontrollieren. Als wäre ihre Lage nicht schon verzweifelt genug, begann es wieder zu schneien.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon in der Falle auf und ab gelaufen war, als ein Geräusch sie aufschrecken ließ. Als sie aufsah, schaute sie in die dunklen Augen einer Krähe, die sich am Rand der Grube niedergelassen hatte und sie aufmerksam musterte.
„Hau bloß ab!“ Dinka schwenkte die Arme, um den Aasfresser zu verscheuchen. „Noch ist deine Mahlzeit putzmunter, also verschwinde.“ Doch der schwarze Vogel ließ sich davon nicht abschrecken. Im Gegenteil - Dinka fand, dass sich sein ‚Krah‘ recht spöttisch anhörte, als würde er sich köstlich über ihre ausweglose Situation amüsieren.
„Sei bloß froh, dass ich meinen Bogen verloren habe, sonst hätte ich dir schon längst deinen vorlauten Schnabel gestopft.“ Aber auch diese Worte und die drohend geballten Fäuste zeigten keine Wirkung, dabei waren Krähen normalerweise recht scheu, mieden den direkten Kontakt mit Menschen. Laut Kerrt waren sie die Schlausten aller Vögel und konnten genau einschätzen, wer ihnen Böses wollte und wer nicht. Diese hier schien sich nicht mehr von ihrer künftigen Mahlzeit trennen zu wollen. „Und glaub ja nicht, dass ich dir den Gefallen tue, schnell zu sterben. Ich bin zäh, das kann ewig dauern.“
„Sprichst du immer mit Vögeln, oder ist das eine Folge des Sturzes?“
Mit einem Aufschrei fuhr Dinka herum. Im Gegenlicht konnte sie nur eine große, dunkle Gestalt am Rand der Grube erkennen, und das plötzliche Erscheinen verschlug ihr erst einmal die Sprache.
Der Neuankömmling legte den Kopf schief. „Hm, wenn du mir nicht antwortest, heißt das dann, dass du nur mit Vögeln sprichst, nicht aber mit Menschen?“
Der leise Spott in seiner Stimme glich dem der Krähe so sehr, dass Dinka jede Zurückhaltung vergaß. „Ist das etwa deine Falle? Bist du völlig verrückt, sie in dieser Jahreszeit abgedeckt zu lassen?“ Als Antwort verschränkte die Gestalt lediglich die Arme und starrte wortlos auf sie herab, was Dinka noch mehr in Rage brachte. „Hättest du wohl die unendliche Güte, mich hier rauszuholen? Oder willst du warten, bis ich steif gefroren bin?“
Der Mann lachte, und als er vom Rand verschwand, musste sie an sich halten, um nicht verzweifelt aufzuschreien. Er war aber im Handumdrehen wieder da, um ein dickes Seil zu ihr in die Grube hinunterzulassen. Noch nie in ihrem Leben war sie derart schnell an einem Seil hinaufgeklettert. Oben angekommen starrte sie ihren Retter an, der sie seinerseits einer gründlichen Musterung unterzog. Dunkle Haare, dunkle Augen, schwarze Kleidung – auch ohne Gegenlicht sah er ausgesprochen düster aus. Seine tiefe Stimme hätte Dinka durchaus gefallen können, wäre in seinen Worten nicht schon wieder dieser spöttische Unterton mitgeschwungen.
„Man lernt tatsächlich nie aus. Bei uns heißt der zweite Monat des Jahres ‚Narrenmond‘, weil nur ausgemachte Narren zu dieser unwirtlichen Zeit unterwegs sind. Bis jetzt dachte ich, dies sei nur ein alter Spruch, aber du hast ihm gerade Leben eingehaucht.“ Ohne ihre Antwort auf diese Frechheit abzuwarten, winkte er ihr, ihm zu folgen, drehte sich um und ging davon.
Sie zögerte nur kurz, bevor sie ihm hinterherstapfte. Vielleicht konnte sie ihm Vorräte abschwatzen oder zumindest herausfinden, welche Wegstrecke noch vor ihr lag. Und bei der Gelegenheit mochte es ihr sogar gelingen, diesem ungehobelten Kerl ein paar Manieren beizubringen.
(Anathea DellEste)
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