· 

Türchen Nr. 4 "Tanz"

Tanz der Blätter

 

Er fühlte sich schlecht. Die gemütliche Adventsstimmung war abrupt umgeschlagen, und jetzt erlebte er seinen ganz persönlichen Horrortrip. Jemand wusste Bescheid, hatte herausgefunden, was damals in Afrika geschehen war. Aber wieso nach all der Zeit? Seine Hände zitterten, als er seinen Briefkasten aufschloss. Wie befürchtet lag erneut einer dieser weißen, unbeschriebenen Umschläge darin. Kurz dachte er daran, ihn einfach ungeöffnet zu entsorgen, doch morbide Neugier ließ ihn danach greifen, um den Zettel darin herauszuziehen.

 

Jedes tote Blatt, das der Wind an dir vorbeiweht, trägt das Gesicht eines deiner Opfer!

 

Er schaffte es gerade noch ins Bad, wo er sich immer wieder erbrach, bis nur noch ein trockenes Würgen blieb. Erschöpft schleppte er sich ins Wohnzimmer, wo er an jenen schrecklichen Tag zurückdachte, an dem fast ein ganzes Dorf ausgelöscht worden war. Sie hatten nie herausgefunden, was nicht in Ordnung gewesen war mit den Medikamenten, die sie dort verteilt hatten, denn keiner von ihnen hatte den Mut gehabt, eine offizielle Untersuchung anzustoßen. Dem Fahrer, der sie am nächsten Morgen abholte, erzählten sie eine Schauergeschichte, die den abergläubischen Alten wahrscheinlich noch heute bis in den Schlaf verfolgte. Nie hatte auch nur eine Zeile den Weg in die Presse gefunden, denn die Welt interessierte sich nicht für ein winziges Dorf im Tschad. Zumindest bis jetzt.

Er warf den Umschlag auf den Wohnzimmertisch, und ein weiteres Blatt rutschte heraus. Die Kopie einer Todesanzeige. Enno, der damalige Assistenzarzt. Der die Medikamente mitgebracht hatte. Jetzt blieben nur noch drei, die dabei gewesen waren.

 

(Anathea North)

 


Nie zu spät

 

Vera kam sich einfach nur lächerlich vor. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, sich zu diesem Tanzkurs anzumelden? Sie blieb vor der Eingangstür der Tanzschule stehen und überlegte, wie sie sich am besten aus der Affäre ziehen könnte. Da sie nicht mehr die Jüngste war, würde bestimmt ein Anruf ausreichen, bei dem sie irgendeine dieser Krankheiten angeben würde, an der heutzutage jeder zu leiden schien. Ja, das wäre besser, als sich hier zu blamieren. Mit einem entschlossenen Ruck drehte sie sich um, wobei sie den verschneiten Gehweg unterschätzte und ins Rutschen kam.

„Hoppla, schöne Frau, nicht so stürmisch.“ Jemand packte sie beherzt am Arm und verhinderte, dass sie hinfiel. Während sie Entschuldigungen stammelte, verteilte ihr Retter großzügig Komplimente über ihr flottes Aussehen, ihre modische Frisur. Bevor Vera sich versah, klappte die Eingangstür hinter ihr zu, und ein junger Mann eilte auf sie zu, um ihr den Wintermantel abzunehmen.

„Aber ich…“

„So, Gnädigste, und da ich Sie vor einem späten Arztbesuch bewahrt habe, darf ich Sie heute zu meiner Tanzpartnerin erwählen, oder?“

Erst jetzt fand sie Zeit, sich ihren Gesprächspartner genauer anzusehen, und war angenehm überrascht. Während der Tanzeinlagen, aber auch in den Pausen dazwischen erfuhr sie mehr. Auch er war verwitwet, und versuchte wie sie, der Einsamkeit in der Adventszeit durch diesen Kurs zu entfliehen. Die Stunden vergingen wie im Flug, und gern gab sie das Versprechen, in der nächsten Woche wieder dabei zu sein. Wie gut, dass sie sich für dieses Abenteuer entschieden hatte!

 

 (Anathea Minami)

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0