Die Heimreise
„Wo ist mein Bild? Wo ist mein Bild?“, kreischte Thomas.
Hektisch sah er sich um, warf die Bettdecke zurück. Die Tür ging auf, Frau Herz trat herein und ging an den Nachttisch, um das Bild herauszunehmen.
„Hier, Thomas, da ist es.“
„Mhh, mein Bild. Das habe ich mit Mama gebastelt. Mein Bild.“
Langsam glitt seine Hand über den Mond, Tränen fielen auf die Bastelarbeit herab. „Den Mond hat sie gemacht, ich die Pfeife und die Mütze. Meine Mama kann gut schneiden. Meine Kreise sind immer eckig. Wann kommt sie wieder?“
„Deine Mutter ist im Himmel, weißt du noch, Thomas?“
„Nein, sie war heute Morgen hier. Sie kommt mich für das Weihnachtsfest abholen.“
Die Pflegerin lächelte mild. Thomas lebte in der Vergangenheit. An guten Tagen wusste er, wo er war. Der heutige Tag gehörte nicht dazu. Seine Mutter war seit über dreißig Jahre tot. Dieses Bild war alles, was noch Bedeutung für ihn hatte. Es war sein einziger Besitz, der ihm von einem anstrengenden Leben blieb. Den Rest hatten sich seine Kinder geteilt, das Zusammensein mit ihrem Vater hatten sie aber nicht als Erbe angesehen. Vergessen saß er hier.
Am Abend kehrte Frau Herz zu dem Patienten zurück. „Kommen Sie mit zu der Feier?“
„Nein, ich warte auf Mama.“
„Sie ist…“
„Nein, sie kommt.“
Die Krankenhelferin schürzte die Lippen. Heute war seine Demenz besonders schlimm.„Ich komme später.“
„Frohe Weihnachten, Frau Herz. Danke für alles.“
Bevor sie antworten konnte, fielen ihm die Augen zu, und er war gegangen.
(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)
Zaubernacht
Gemächlich ging der Mond auf, um wie an jedem Abend in diesem klirrend-kalten Winter die Schneedecke zum Glitzern zu bringen. Doch es war niemand da, der die eisige Schönheit der Nacht hätte bewundern können. Die Menschen hatten sich in ihre geheizten Häuser zurückgezogen, und auch die Tierwelt bevorzugte es, die Zeit in einem warmen Nest zu verbringen. Kein flinkes Mäuschen war unterwegs, keine Eule zog lautlos ihre Kreise. Kein Wolf rief nach seinem Rudel, und nirgends ertönte das übliche Rascheln, mit dem unsichtbare, scheue Nachtwesen späte Wanderer zu erschrecken pflegten.
Es war ganz still und reglos, fast als hätte sich die gesamte Welt wie ein Igel für den Winterschlaf zusammengerollt.
Auf einem Feld standen zwei unterschiedlich gestaltete Schneemänner. Der eine war größer und trug zu seiner Karotten-Nase einen alten, aber immer noch stattlichen Zylinder. Der andere hatte große, blaue Knöpfe als Augen und eine zottelige Strickmütze auf dem Kopf. Als ganz sicher niemand in dieser Nacht auf den Beinen war, da blinzelten sich die beiden zu; der eine mit kohlschwarzen, der andere mit wasserblauen Augen. Langsam begannen sie, sich zu umkreisen, wurden schneller und mutiger, bis sie in einem anmutigen Tanz auf der funkelnden Schneefläche dahinglitten. Der Mond und seine goldenen Sternenkinder waren die einzigen, die dieses wunderbare Schauspiel verfolgen konnten.
Artig verbeugte sich Herr Schneemann vor der Frau Schneemann, wobei er seinen Zylinder zog. Frau Schneemann kicherte leise und versank in einen tiefen Hofknicks. Danach ging jeder wieder an seinen Platz, und die Nacht war still wie zuvor.
(Anathea DellEste)
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