Überraschungsgast
„Bruderherz! Zieht der Plätzchen-Duft etwa bis in die Stadt?“ Lisa umarmte den Besucher, der sie inzwischen zwar überragte, aber dennoch immer ihr kleiner Bruder bleiben würde. „Ich habe gerade die ersten Vanille-Kipferl aus dem Ofen gezogen.“
„Echt?“ Max schob sich an seiner Schwester vorbei, um die Küche anzusteuern, aus der ihm bereits ein wunderbar weihnachtlicher Geruch entgegenkam. „Gut, dass zufällig der weltbeste Plätzchen-Verkoster an deine Tür geklopft hat, oder? Eine ordentliche Qualitätskontrolle muss schon sein. Vielleicht hast du eine wichtige Zutat vergessen.“
Lisa zog als Strafe das Backblech aus seiner Reichweite. „Nee, mein Lieber, wenn du so frech bist…“
„Bitte!“ Max setzte seinen flehentlichsten Blick auf. „Sonst klappe ich hier wegen Plätzchen-Entzug zusammen.“
Lisa ließ sich erweichen, und bald plauderten sie über dies und das, bis sie beschloss, ganz direkt zu fragen. „Okay, lass hören. Was ist los?“ Seinen betont unschuldigen Blick ignorierte sie. „Es ist mitten in der Woche, noch dazu am Nachmittag. Da tauchst du eigentlich nur auf, wenn es irgendwo brennt, Brüderlein.“
Ertappt grinste Max seine Schwester an. „Also gut, lassen wir die Katze aus dem Sack, oder vielmehr die Penny. Komm mal mit.“ Draußen öffnete er die Autotür, und seine schon etwas aufgebrachte Begleitung fegte aus dem Auto in Lisas Garten.
„Eine Gans?“
„Namens Penny. Ich konnte sie einigen Banausen abschwatzen, die sich das Prachtmädchen tatsächlich als Braten auf den Tisch stellen wollten.“
Lisa seufzte. Das weiche Herz ihres Bruders hatte ihr schon so manchen Untermieter beschert, jetzt also auch eine echte Weihnachtsgans.
„Willkommen, Penny.“
(Anathea Westen)
Gefährlicher Pakt
Vorsichtig schaute Marianna in die kleine Kapelle auf dem vergessenen Friedhof. Erschrocken zuckte sie zurück, unzählige verschiedenfarbige Augenpaare schauten sie an. Ihre Nackenhaare sträubten sich; sie hatte das kleine Volk gefunden. Nachdem sich beide Seiten für einen Moment schweigend gemustert hatten, riss sie sich zusammen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
„Ich bin gekommen, um eure Hilfe zu suchen. Man sagte mir, dass dies ein sicherer Ort sei, an dem wir reden können.“
Das leise Tuscheln, das auf ihre Worte folgte, klang eher nach leise raschelnden Blättern als nach Sprache, doch dann ertönte eine klare, hohe Stimme. „Rat kostet, das muss jeder wissen. Was zahlst du?“
Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie das Unglaubliche aussprach. „Ihr bekommt meine kleine Schwester.“
Das Tuscheln wurde zum Tosen, der Preis schien interessant. „Weshalb?“
„Sie ist an Heiligabend geboren, ein Weihnachtskind..“
Die plötzliche Stille machte sie nervös, doch dann: „Was willst du dafür?“
„Die Liebe eines Mannes. Ich will, dass Piedro, der Sohn des Kaufmanns, mir gehört, mir allein.“
„Gefährlicher Wunsch, denn Liebe ist wie ein wildes Pferd. Schwer unter Kontrolle zu halten.“
„Aber ihr könnt es?“
„Können dir seine ewige Liebe geben, kann trotzdem zu Unglück führen.“
„Ich will es trotzdem.“
Eine schmale, eiskalte Hand ergriff die ihre. „Pakt geschlossen!“
Mit zittriger Stimme wiederholte sie: „Pakt geschlossen.“
„Kein Zurück mehr möglich. Bring sie uns.“ Und als Marianna fast schon aus der Tür war: „Doch Verrat hat auch seinen Preis. Eines Tages wird deine Schwester dich holen kommen.“
Marianna floh.
(Anathea DellEste)
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