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Türchen Nr. 15 "Angst"

Licht der Hoffnung

 

Langsam reiße ich das Kalenderblatt herab. Immer näher kommt Weihnachten. Freuen kann ich mich nicht. Eher empfinde ich Angst und Traurigkeit. Wie feiern, wenn der Liebste fort ist, nie wieder, bis an jenem Tag, wo man selbst über die große Schwelle tritt, bei einem sein wird? Das erste Fest ohne ihn. Ich versuche die unangenehmen Gedanken beiseite zu schieben. Doch sie sind da. Unauslöschlich. Man kann nicht einfach vergessen. Er müsste da sein. Wo ich blicke, er fehlt. Sei es beim Schmücken des Baumes, oder beim Zusammenstellen des Festessens. Er ist fort und bleibt fort. Sein Parfüm werde ich dieses Jahr nicht riechen, sein Geschenk werde ich ihm auf sein Grab legen, sein Lachen schmerzlich vermissen. Ängstlich blicke ich auf das Bild glücklicheren Zeiten. Da waren wir noch alle zusammen, prosten auf das neue Jahr. Als ob nichts geschehen könnte. In unseren Gesichtern Freude. Niemand ahnte, dass einer von uns im Jahresbuch des Todes stand. Wir waren glücklich, genossen den Moment.

 

Wie schon manches Mal sehne ich den Augenblick zurück. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Sie geht vorwärts. Traurig fahre ich zur Arbeit. Was soll ich sonst tun? Das Leben muss weitergehen. Irgendwie. Quälend langsam zieht der Tag sich dahin, die weihnachtliche Stimmung findet keinen Zugang zu mir. Als ich am Abend zurückfahre, erstarre ich. Oben am Himmel erscheint mir in Wolkenform ein Engel. Es ist wie ein Zeichen.
„Du bist nicht alleine. Ich bin bei dir.“

Ich halte inne und spüre Hoffnung. Ich lächle.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)


Weihnachtszwang

 

Sie stand ganz oben auf dem Leuchtturm und schaute auf das tosende Wellenspiel hinab. In diesem bleigrauen Zwielicht schien ihre winzige Insel der letzte Überrest des Kontinents zu sein, den das Wasser der abgeschmolzenen Gletscher längst überspült hatte. Noch vor fünfzig Jahren hätte sie von hier aus nichts als festes Land gesehen, kaum vorstellbar für jemanden wie sie, der erst nach der großen Flut geboren worden war.

Viele fürchteten den Dienst auf diesem Turm, doch Keoma fühlte sich hier gerade zu dieser Jahreszeit sicherer als unter anderen Menschen. Der neu aufkeimende Fanatismus machte ihr Angst, obwohl sie durchaus verstehen konnte, dass sich die Leute nach etwas sehnten, das alle miteinander verband. Aber ausgerechnet der Weihnachtszwang…?

Ihr fröstelte bei dem Gedanken, dass in diesem Moment alle Leute aus ihren Häusern auf den festlich geschmückten Marktplatz getrieben wurden, um ‚Spaß‘ zu haben. Wobei exakt vorgeschrieben war, wann welches Lied gesungen, wann welches Getränk getrunken werden durfte. Die Kunsthandwerker mussten Dinge wie Kerzenhalter und kleine gläserne Kugeln anpreisen, die der eingeschüchterte Bürger kaufte, wenn er nicht unangenehm auffallen wollte. Nachdem Keoma vor ein paar Jahren Ärger bekommen hatte, weil ihre Gestik und Mimik nicht freudig genug für den festlichen Anlass ausgefallen war, hielt sie sich lieber fern von diesem Wahnsinn. Nachdenklich schweifte ihr Blick über die scheinbar endlose Wasserfläche.

 Und doch hatte ihre Mutter erzählt, dass es diesen Brauch schon lange vor der Flut gegeben hatte. Damals war das Ganze absolut freiwillig, gefiel den Menschen und hatte einen anderen Namen - Weihnachtsmarkt.

 

(Anathea DellEste)

 

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