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Türchen Nr. 16 "Geheimnis"

Gefallen

 

Fröhlich vor mich hinsingend, suchte ich auf dem Dachboden nach Weihnachtsdekoration. Ich wollte Onkel Raphael mit dem geschmückten Haus überraschen. In einer Ecke fand ich ein altes Fotoalbum. Mit zitternden Händen schlug ich es auf. Tränen liefen meine Wangen herab. Meine Eltern in ihren Jugendjahren blickten mir entgegen. Sie lachten, waren voller Glück. Nichts deutete auf das bevorstehende Drama hin.

„Komisch. Wieso ist Raphael nie auf Familienbilder? Es ist, als ob er früher nicht existierte.“

Ich beschloss, meinen Erzieher heute Abend zu fragen. Es gab so vieles, das ich von ihm nicht wusste. Ohne Raphael wäre ich ein Heim gekommen. Meine Eltern starben bei einem Verkehrsunfall, ich überlebte wie durch ein Wunder den Horror Crash.

 

„Was machst du, Sophie?“

Ich fuhr zusammen, als mein Onkel plötzlich hinter mir stand. Lautlos wie immer, war er hereingekommen.

„Ich suchte nach dem Schmuck für das Fest. Dabei habe ich das gefunden. Wo warst du damals?“

„Ich war bei ihnen.“

„Aber man sieht dich nicht.“

Raphael schloss die Augen.  „Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde. Du bist dreizehn, du bist reif genug für die Wahrheit. Ich bin nicht dein Onkel, deine Mutter erwählte mich als ihren Bruder. In der Stunde ihres Todes war ich bei ihr. ‚Kümmere dich um Sophie‘ war ihre letzte Bitte.“

„Wer bist du?“

„Vergib mir, nur dich konnte ich retten. Ich war der Schutzengel. Ich ließ mich fallen, um dich großzuziehen.“

Schluchzend fiel ich ihm in die Arme. Wir beschlossen, dies als unser Geheimnis zu bewahren.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

 


Verrechnet

 

Ihre Hände trafen sich, als sie nach demselben Buch griffen. Jan nutzte die Gelegenheit, um mit seinem Daumen sanft über ihren Handrücken zu fahren. Im Gegenzug schenkte Viola ihm einen tiefen Blick aus ihren wunderschönen braunen Augen, der ihm eine Gänsehaut die Wirbelsäule entlang jagte. Wenn bloß nicht so viele neugierige Leute auf dem Weihnachtsbasar unterwegs wären. Jans Kehle wurde trocken, als er an Montag zurückdachte.

 

„Komm doch rein, du kannst auf ihn warten“, hatte sie nach dem Öffnen der Tür gesagt, wie schon so viele Male zuvor. Sie hatten sich unterhalten, gescherzt, und Viola hatte ihm einen Kaffee gebracht. Doch dann hatte er etwas davon auf seine Hose verschüttet, und sie hatte lachend einen Lappen geholt, um das Malheur zu beseitigen. Als ihre Hand über sein Bein fuhr, sie so dicht bei ihm stand, dass der Duft ihres Haares ihm betörend in die Nase stieg, sah er sie zum ersten Mal als begehrenswerte Frau. Sie hatte es ihm angesehen, und zunächst überrascht, doch dann sehr souverän, übernahm sie die Führung.

Mit seinen neunzehn Jahren war er in Sachen Sex nicht mehr unerfahren, und auch jetzt hatte er eine nette Freundin, aber das, was er mit Viola erlebt hatte, gehörte in eine ganz andere Kategorie. Äußerlich cool, in der Hoffnung, dass man ihm die wackeligen Knie nicht ansehen konnte, nickte er ihr noch einmal zu, bevor er weiterging.

Er hatte seinen Freund Thilo nur nach einem Mathe-Buch fragen wollen, doch nun teilte er dieses süße Geheimnis mit dessen Mutter.

 

(Anathea Minami)

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