· 

Türchen Nr. 17 "Blau"

Eine besondere Freundschaft

 

Baul war dieses Frühjahr geboren worden und erlebte seinen ersten Winter. Erst staunte die Blaumeise über die wundervolle weiße Pracht, doch bald begriff sie, dass Insekten bei der Kälte nicht aufzutreiben waren und dass es weder Nüsse noch Samenkerne gab. Hungernd saß er in seinem Nest, spähte in den grauen Himmel. Wann würden die Tage voller Sonnenschein und blauem Himmel zurückkommen?

„Baul, kommst du mit mir?“, fragte die vorbeiziehende Kohlmeise Nera.

„Wohin denn?“

 „Zu Frau Vogel und ihren Enkeln. In ihrem Garten steht ein Haus mit viel fettigen Körnern sowie flüssiges Wasser für uns.“

 Baul verkroch sich in seinem Nest. Die Menschen machten ihm Angst. Mit Schrecken dachte er an seinen ersten Flug. Laut hatten die Kinder gelacht und ihn mit Steinen beworfen. Nein, in Gärten lässt er sich nicht mehr blicken.

„Ich bleibe hier. Menschen können gemein sein.“

 „Nicht alle Leute sind so. Ich weiß, du hattest dieses arge Erlebnis. Aber diese Leute sind anders.“

 Bauls knurrender Magen siegte über die Furcht. 

 

Staunend betrachtete er das blaue Vogelhaus voller Körner.

Er nahm einen vollen Schnabel und erstarrte beim Anblick der im Schnee hockenden Kinder. Würde es wieder Steine regnen? Da merkte er, dass das Mädchen einen langen spitzen Stab in der Hand hielt, auf ihrem Schoß ruhten weiße Flächen. Neugierig flog er über sie. Auf dem Blatt nahm eine Blaumeise Form und Gestalt an.

„Bleibe da, ich will dich zeichnen.“

Baul piepte und landete vor ihr. Beide waren glücklich. Fortan setzte sich Baul öfters zu ihr.

 

(Havenne Therese, Autorin aus Luxemburg)

 


Gefallene Engel

 

Die Menschenmassen, die sich durch die Gänge des Einkaufszentrums schoben, machten Kira verrückt. Aber sie brauchte das Geld für ihren Führerschein – und es gab schlimmere Jobs als den, im Engelskostüm Schokolade und Werbegeschenke zu verteilen.

 

Sie rückte ihren Heiligenschein zurecht und ging in die Hocke, als ein kleines Mädchen auf sie zusprang. Die Kleine nahm die Schokolade entgegen, zupfte an Kiras blonden Locken und sagte: „Du bist wunderschön.“

„Danke.“ Kira lächelte und wollte sich wiederaufrichten, aber jemand war von hinten auf ihr Gewand getreten. Durch den Ruck riss das Material, sie verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Kira sah auf -  in die überraschten Gesichter einiger Jungs, die vor einem Schaufenster standen und Turnschuhe bewunderten.

 

„Na sowas - ein gefallener Engel“, sagte einer von ihnen schadenfroh. „Oder erlebe ich gerade ein blaues Wunder?“ Er beugte sich zu ihr herunter. „Engelchen, man soll die Feste feiern, wie sie fallen - und nicht so feste feiern, dass man fällt.“ Die anderen stimmten in sein Lachen ein und Kira spürte, wie ihre Wangen rot anliefen.

„Sei nicht so ein Arsch, Tom.“ Ein dunkelhaariger, hochgewachsener Junge streckte ihr die Hand entgegen und half ihr auf. Er lächelte mitfühlend. „Hast du dir wehgetan?“

Kira schüttelte den Kopf und sah in seine grünen Augen. Ihr Herz schlug schneller - er hielt ihre Hand noch immer fest in seiner.

„Zum Glück, ähm...?“

„Kira.“ Sie lächelte verlegen. „Und du?“

„Dein Retter heißt passenderweise Raphael.“ Tom grinste. „Da haben sich zwei gefallene Engel gefunden.“

 

(Katja Kobusch)


Duell der Weihnachtsmänner

 

Sie fuhr zusammen, als der Schlüssel gedreht wurde und sich die Tür gleich darauf knarzend öffnete. Nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet kauerte sie in einer Ecke ihres Gefängnisses. Die heisere Stimme ihres Wärters ließ sie zusätzlich frösteln.

„Bist du endlich zur Vernunft gekommen? Du bist doch schon ganz blau gefroren. Sei ein braves Mädchen, zieh deine Arbeitskleidung an, und dann darfst du hier auch wieder raus.“

Allmählich geriet Cilla wirklich in Versuchung, diesen Anweisungen Folge zu leisten, wenn es sie nur aus diesem Kellerloch herausbringen würde. Aber der Typ war verrückt, das durfte sie nicht eine Sekunde lang vergessen.

„Väterchen Frost wartet auf dich.“

Sie schnaubte verzweifelt. „Noch einmal - ich bin die Falsche. Ich bin nicht die gesuchte Enkelin namens ‚Schneemädchen‘, okay? Und ich werde auch nicht dieses Schneeflocken-Kostüm anziehen!“

„Doch“, erwiderte die in eine dunkle Kutte gehüllte Gestalt. „Früher oder später tut ihr das alle.“

„Wie meinst du das - ‚ihr alle‘? Gibt es noch mehr Gefangene?“

„Auserwählte“, wurde sie sofort korrigiert. „Du bist die Letzte. Die anderen wurden abgelehnt.“

„Und wurden sie freigelassen?“ Als sie keine Antwort erhielt, fragte sie nach: „Was passiert mit mir, wenn du feststellst, dass ich nicht das gesuchte Schneemädchen bin?“

„Es ist nicht richtig, dass dieser amerikanische Weihnachtsmann überall präsent ist, während Väterchen Frost keine Beachtung findet. Mit dir an seiner Seite wird sich das ändern. Du wirst alles dafür tun.“ Im letzten Satz schwang eine klare Drohung mit, die Cilla jede Hoffnung raubte, mit heiler Haut davonzukommen.

 

(Anathea North)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0