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Türchen Nr. 18 "Chanson"

Singende Freunde

 

Französische Chansons klingen durch das Advents-Lager. Laut und gar nicht weihnachtlich, aber das stört niemanden. Hauptsache, es macht Spaß. Lauthals prusten sie los, als Mara das Lied ‚En chantant‘ aus der Trommel zieht.

„Hey, ich kann doch nicht singen: Als ich ein kleiner Junge war…“

„Ändere es um“, schlägt Nele vor. 

„Auf Französisch oder darf ich frei übersetzen?“

„Französisch, Französisch, Französisch.“

Alle Kinder tappen mit den Füßen auf den Boden und klatschen rhythmisch in die Hände.

„Seid ihr sicher, dass das auch zu den Chansons gehört?“

„Nee.“

Nele grinst und knufft Mara in die Seite. „Leg los.“

Mara beginnt, verhaspelt sich und als sie die letzte Zeile erreicht, bricht sie in Tränen aus. Sie wirft das Blatt in das Feuer und rennt davon. Bestürzt starren sich ihre Freunde an. Was hat sie bloß?

„So schlecht hat sie nun wirklich nicht gesungen“, meint Thomas, „Ob wir zu viel gelacht haben?“

„Sie ist überhaupt komisch in letzter Zeit. Sie fehlt oft in der Schule und nur mit Mühe habe ich sie dazu gebracht, den vierten Adventssonntag mit uns zu verbringen.“

„Stimmt, Nele. Und reden tut sie auch nicht mehr viel.“

„Ich gehe mal nach ihr sehen.“

 

Schluchzend liegt Mara auf ihrem Bett.

„Lass mich.“

„Mara, was ist los? Haben wir etwas falsch gemacht?“

„Nein, ich habe nur noch einen Monat zu leben. Vielleicht weniger. Würdet ihr wie im Lied am Grab für mich singen?

Nele legt ihr tröstend die Hand auf die Schulter.

„Dann lass uns bis dahin gemeinsam leben.“

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)


Gefährliche Klänge

 

Die ersten Töne eines längst vergessenen Chansons zogen die durch weihnachtlich geschmückte Halle und ließen die elegante Gastgeberin erstarren. Er hat versprochen, dass es das Lied nicht mehr geben wird. Er hat es versprochen. Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern, wieviel Zeit ihr noch blieb. Nach Jahrhunderten war vieles in Vergessenheit geraten, doch auch wenn diese Musik im Mittelalter geschrieben und nun etwas modernisiert worden war - sie erkannte sie sofort.

Rasch übergab Charlotte ihrer Geschäftspartnerin die weitere Leitung des jährlich stattfindenden Weihnachtsfestes wegen eines erfundenen Notfalls, um sich zurückzuziehen. Sie löschte alle Lichter und wartete auf das Unvermeidliche, wobei ihr die Anfänge durch den Kopf gingen.

 

Einst war dieser Chanson voll poetischer Bildsprache mit Gesangspassagen als Warnung vor ihr geschaffen worden. Ihr, der Werkatze, die in einsamen Wäldern, aber auch mitten in Dörfern und Städten auf Beutefang ging. Erklang dieses Lied, war es ihr unmöglich, die Gestalt der kraftvollen Jägerin anzunehmen, sondern sie blieb ganz Frau, was sie ziemlich erzürnte. Deshalb hatte sie sich auf die Suche gemacht und ihn tatsächlich gefunden – Lucien, den Bannsänger. Es war eine wilde Liebe, die sie miteinander verband. Heiße Schwüre, stürmische Kämpfe, leidenschaftliche Versöhnungen wechselten sich ab, und irgendwann wirkte der Bann umgekehrt. Sie verwandelte sich nur noch, wenn diese Musik gespielt wurde. Auf seinem Totenbett hatte er geschworen, das Lied mit sich zu nehmen, um ihr ein ewiges Leben in Frauengestalt zu ermöglichen. Charlotte hielt inne. Bis ich wiederkomme, hatte er gesagt. Plötzlich konnte sie die Verwandlung kaum noch abwarten.

 

(Anathea DellEste)

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