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Türchen Nr. 19 "Gesang"

Ein besonderer Wunsch

 

Sehnsüchtig blickte Anna zur Kirchengalerie hoch. Wie gerne würde sie wieder singen können. Zumindest einmal, um ihrer verstorbenen Omi ihr Weihnachtslied vorzutragen. Leider war sie stumm. Als Grund gab es nur den einen, sie war fromm. Das fanden andere Kinder lächerlich und tauchten sie mehrmals unter Wasser. Der böse Spaß ging zu weit und Anna ertrank fast. Seither kam kein Ton mehr über ihre Lippen. Beim Verlassen der Kirche geschah es. Ein älterer Herr verlor den Halt und stürzte zu Boden. Anna reichte ihm den Gehstock, wedelte mit ihren Händen um Hilfe. Menschen eilten herbei und halfen dem Gestürzten auf. 

 

Früh legte Anna sich am Abend schlafen. Morgen war Weihnachten. Unruhig wälzte sie sich im Bett, hatte Angst vor den Alpträumen. Irgendwann übermannte sie der Schlaf und dann fand sie sich auf einer Holzbank wieder. Verwundert erhob sie sich. Sie steckte in einem wunderschönen, weißen Gewand. Ein Mann mittleren Alters in strahlendem Glanz hockte vor ihr.

„Willkommen im Himmelschor, Anna. Ich bin Raphael und heute Abend stimmst du mit uns in den Gesang ein.“

„Aber… „

Anna schlug sich die Hand vor dem Mund. Sie konnte reden.

„Deine Oma wartet auf ihr Lied. Komm mit.“

Anna kamen die Tränen in den Augen, als sie Felicia strahlend vor sich sah. Ihre Oma nahm sie in den Arm. „Schön gesungen. Danke, Kind.“

Raphael trat zu den beiden. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.“

 

Sie erwachte in ihrem Bett.

„Morgen Anna.“

„Morgen Vati.“

Ihr Vater brach in Freudentränen aus.

 

(Havenne Therese, Autorin aus Luxemburg)


Christ-Mess

 

Marie strich zufrieden weitere Posten von ihrer To-Do-Liste ab: Reinigung; Geschenke für Verwandtschaft; Weihnachtsmenü planen; Pakete zur Post bringen...

Ein Klirren aus der Küche ließ sie aufschrecken. „Alles ok, Kinder?“

„Ja, Mama“, rief ihr Achtjähriger und schimpfte dann leise mit seiner kleinen Schwester.

 

Als es erneut klirrte, schloss Marie erschöpft die Augen. Die Weihnachtsvorbereitungen kosteten viel Energie. Alles, wonach sie sich sehnte, war ein bisschen Ruhe.

Aber nun schepperte es laut und sie sprang auf die Füße, um nach dem Rechten zu sehen. Sie stoppte im Türrahmen und nahm das Bild auf, das sich ihr bot: Küche und Kinder waren mit Mehl bedeckt. Stine rührte fröhlich in einer Schüssel und Jannis wischte Ei vom Boden. Marie stöhnte leise: Genau das konnte sie jetzt gebrauchen.

 

Sie wollte gerade hineinstürmen und schimpfen, als Stine sagte: „Mama freut sich bestimmt, dass wir jetzt alleine backen, oder? Dann hat sie eine Sache weniger zu tun.“

„Ja! Aber versuch bitte, etwas weniger Chaos zu machen, ok?“

"Ok.“ Stine grinste und stimmte In der Weihnachtsbäckerei an.

 

Der Gesang ihrer Kinder ließ Marie innehalten. Sie hatte ihnen so oft versprochen, gemeinsam zu backen, bisher aber nicht die Zeit gefunden – aus dem Bestreben heraus, das perfekte Weihnachtsfest zu planen. Als sie ihre singenden, lachenden, unbeschwerten Kinder beobachtete, wurde Marie klar, dass es Momente wie diese waren, die ein Weihnachtsfest perfekt machten - auch, wenn die Küche dabei aussah wie ein Schlachtfeld.

 

„Christ-Mess“, murmelte Marie lächelnd, fing an zu singen und ging zu ihren Kindern, um ihr Versprechen einzulösen.

 

(Katja Kobusch)


Ruhe inmitten des Sturms

 

Die Lichter flackerten hektisch, wechselten ständig die Farben und gingen Ruth schon nach wenigen Minuten furchtbar auf die Nerven. Leute, überall Leute, als hätte niemand mehr ein Zuhause. Dieses Gedränge, diese Angst, etwas zu verpassen, diese Gier, alles und jeden gesehen haben zu müssen. Trotz ihrer Abneigung gegen den Trubel neigte sie sich vor, um die Einzelheiten besser aufnehmen zu können. Hatte sie vor ein paar Jahren wirklich noch zu dieser Meute gehört, die Zeit nur noch in zu erledigenden Aktivitäten messen konnte? Sie schüttelte den Kopf und schaltete den Computer aus, der diese Unruhe in ihre friedliche Behausung getragen hatte.

Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, all diesem Rummel aus dem Weg zu gehen, sich einmal von allem zurückzuziehen, sich auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Wann war der Mensch nur dieser seltsamen Vorstellung verfallen, dass man Glück kaufen könnte? Oder dass ein Leben aus endloser Betriebsamkeit bestünde?

 

Schnell warf sie sich ihren dicken Wintermantel über, schlüpfte in die Stiefel und trat vor die Tür der abgelegenen Hütte. Hier in der kanadischen Wildnis war der Heiligabend ein Tag wie jeder andere auch. Man musste mit sich selbst, seinen inneren Zweifeln und Dämonen zurechtkommen, bis man seinen ganz persönlichen Frieden fand.

Ruth hatte ihn hier nach einem viel zu anstrengenden Leben im Hamsterrad gefunden, und als der nächtliche Gesang der Wölfe einsetzte, atmete sie tief durch. Nein, sie brauchte keine Geschenke, keine Weihnachtstanne, noch nicht einmal andere Menschen, um zufrieden zu sein.

 

(Anathea Westen)

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