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Türchen Nr. 21 "Nordhalbkugel"

Fest der Erlösung

 

Vorsichtig ging Maria durch die Reihen des unterirdischen Stollens. Im Schein ihrer Kerze versuchte sie die Titel der vergessenen Werke zu lesen. Ein Knarzen ließ sie hochfahren. Sie wirbelte herum. War ihr jemand in den verbotenen Raum gefolgt? Das konnte nicht sein. Alle waren vollauf damit beschäftigt, das Fest der Erlösung vorzubereiten. Niemand wagte es, die Geburt des Retters der Menschheit nicht zu feiern. Ein jeder wusste um die göttliche Strafe, die die sündige Menschheit getroffen hatte. Damals, vor dreißig Jahren. In der Heiligen Nacht warf der Himmelsvater zur Strafe für das Verkommen der Weihnacht einen Stein vom Himmel herab. Es ging nur noch um das Schenken, doch nicht mehr um das Geburtstagskind. Nun war die Welt in ewigem Eis gefangen, auf der Nordhalbkugel konnte kein Leben mehr bestehen. Einzig auf einem Teil der Südhalbkugel war es noch möglich zu leben. Vorausgesetzt man hielt sich an die göttlichen Gesetze. Als Kind hatte Maria das nie hinterfragt. Heute war sie skeptisch. Wieso brachen Seuchen aus, wenn doch alle beteten? Wieso erschütterte ein Beben die Kirche an Allerheiligen, als die ganze Gemeinde die Messe zelebrierte?

 

„Maria, was machst du hier?“

„Lukas?“

Erschrocken starrte Maria ihn an.

„Verrate mich nicht. Es ist keine Verdammung, sondern

ein natürliches Phänomen. Kometen können vom Himmel fallen.“

Er reichte ihr einen Artikel über Astrophysik. Erstaunt las Maria ihn und lächelte befreit. Wenn die Menschen das damals berechnen konnten, gab es bestimmt auch ein Buch, um Seuchen zu bekämpfen. Hoffnung keimte in ihr auf.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)


Hoffnung

 

Der Kalender zeigte den 21. Dezember 2018 an - den Tag, den Kalle schon seit Monaten gefürchtet hatte: Während die meisten Menschen heute in die Weihnachtsferien starteten und sich auf die Feiertage freuten, ging für ihn eine Ära zu Ende.

 

Kalle hievte sich aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Als er den Tisch sah, wurde ihm warm ums Herz: Sabine hatte ihn wie immer vor ihrer Frühschicht gedeckt. Aber heute lag ein kleiner Zettel auf seinem Teller: „Schatz! Ich weiß, dass es gerade nicht so aussieht, aber: Das Leben geht auch ohne Kohle weiter. Denk an all die Ziele auf der Nordhalbkugel, die wir zukünftig mit unserem Wohnmobil erkunden werden. Ich liebe dich!“ Er lächelte und schmierte sich ein Brötchen, auch wenn er keinen Hunger hatte.

 

Um neun Uhr sammelte Rainer ihn in seinem alten Golf ein – wie so oft in den letzten 38 Jahren. Heute würden sie das letzte Mal zusammen zur Arbeit fahren. Als Kalle einstieg, schlug Rainer ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Bereit, Kumpel?“

 

Auf dem Weg fuhren sie an weihnachtlich geschmückten Wohnungen vorbei. Aber in vielen Fenstern sah Kalle auch etwas, das ihm zeigte, dass heute die ganze Region hinter ihm und seinen Kumpels stand: Die Schablone eines Förderturms.

 

Diese Geste der Solidarität gab ihm Kraft. Nach 38 Jahren unter Tage konnte er es sich noch nicht vorstellen, aber Sabine hatte Recht: Es würde auch ohne Kohle weitergehen.

Für ihn.

Für seine Kumpels.

Für die Region.

War Weihnachten nicht ein Fest der Hoffnung?

 

(Katja Kobusch)


Wunschzettel

 

Ja, sagte sie sich. Ich liebe diesen Mann. Oder besser gesagt, dieses große Kind? Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie sich mitten in Lappland befand. Ausgerechnet sie, für die jede Urlaubsreise normalerweise in den heißen Süden führen musste. Kaum in dieser frostigen Region der Nordhalbkugel angekommen, ging es sofort per Motorschlitten zum Eisangeln, und nun stand ein Ausflug per Rentierschlitten zum Weihnachtsmanndorf an. Seltsamerweise gefiel es ihr in dieser verschneiten Landschaft; längst ersetzten Vorfreude und Abenteuerlust ihre anfängliche Verdrießlichkeit. 

Bisher hatte sie Romantik nur mit leicht kitschig angehauchten Sonnenuntergängen an südlichen Stränden in Verbindung gebracht. Doch nun lagen sie sich, in kuschelige Felle gehüllt, in den Armen, lauschten den Glöckchen, die am Zaumzeug der Rentiere bimmelten, und waren sich so unglaublich nah.

„Und?“, flüsterte Gabriel ihr zu. „Bedauerst du, mitgekommen zu sein?“

Sie schüttelte nur den Kopf, um sich dann wieder an ihn zu schmiegen.

 

Gern wäre sie noch stundenlang weitergefahren, doch das geschmückte Dorf des Weihnachtsmanns kam in Sicht, und lächelnd folgte sie Gabriel, der sie aufgeregt zum Haus des Weihnachtsmanns zog.

„Hallo, Gabriel“, sagte dieser. „Ich habe deinen Wunschzettel erhalten, aber deinen einzigen Wunsch muss dir wohl jemand anderes gewähren.“

„Du hast einen Wunschzettel eingeschickt?“ Sie wusste nicht recht, ob sie das entzückend oder peinlich finden sollte. Verblüfft starrte sie Gabriel an, als dieser vor ihr auf die Knie sank, um ihr einen bunten Zettel entgegenzustrecken. Dort las sie:

Mein Weihnachtswunsch: Liebste Mia, bitte heirate mich

 „Ja“, hauchte sie. „Dein Wunsch sei gewährt, du Gauner!“

 

(Anathea Minami)

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