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Türchen Nr. 22 "Draht"

Zauber der Vorweihnachtszeit


Ich habe die Weihnachtsvorbereitungen geliebt! Wenn unsere Eltern sagten: „Wir fahren zum Christkind“, dann wussten meine Schwester und ich: Sie würden heute Geschenke für uns kaufen. Wie aufregend das war!

 

In jedem Jahr gab es eine riesige Plätzchenbackaktion, bei der Unmengen Spritzgebäck durch den Fleischwolf gedreht wurden. Diese mussten in langen Schlangen auf den Tisch gerettet werden, um dann möglichst gleich lang geschnitten auf die Bleche gelegt zu werden. Nach dem Backen wurden sie mit Schokolade und Zuckerguss verziert.

Ich war jedoch immer diejenige, die es zu verantworten hatte, dass es eine große Menge Teig gar nicht in den gebackenen Zustand schaffte. Roh war er doch viel leckerer!

 

Besonders geliebt habe ich es, am Abend vor Heiligabend mit meinen Eltern den Tannenbaum zu schmücken. Meine Schwester war nicht dabei. Sie wollte sich lieber vom geschmückten Baum überraschen lassen. Ich hingegen wollte es genau mitbekommen, wollte Teil dieses Schöpfungsprozesses sein. Bei uns wurden noch sehr lange echte Kerzen für den Tannenbaum verwendet und das Aufregendste war es für mich, dicke Drähte in einer Kerzenflamme zu erhitzen und sie dann von unten in die Tannenbaumkerzen zu schieben, damit diese am Baum befestigt werden konnten.

 Das Größte war natürlich der Heiligabend selbst. Wie lang war die Zeit, bis Papa endlich mit dem Glöckchen klingelte und wir das Wohnzimmer betreten durften! Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte...

 

 (Mona Schulte)


Fee der Weihnacht

 

Sie stand vor seiner Tür - klitschnass, zerzaust und von oben bis unten mit Glitter bedeckt. Kai musterte die Unbekannte irritiert. „Ja bitte?“

„Ich brauche einen heißen Kakao, bitte.“ Sie ging an ihm vorbei in die Wohnung. „Und hättest du auch Kekse?“

„Entschuldigung?“ Er lachte ungläubig. „Ich kenne dich nicht und...“

„Oh, natürlich.“ Sie streckte ihm ihre zierliche Hand hin. „Fee der Weihnacht. Schön dich kennenzulernen, Kai.“

„Fee der Weihnacht, hm?“ Er musterte sie eindringlich. „Wer hat dich geschickt? Jan? Charlie?“

 

„Keine Ahnung, wovon du redest.“ Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen. „Ich war unterwegs, um Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Aber der Beutel mit dem Besinnlichkeitsstaub hat ein Loch. Dann hat es angefangen zu regnen, weswegen ich sichtbar geworden bin. Und dann war da dieser große Hund, der mich verfolgt hat und...“

„Stopp.“ Kai hob eine Hand. „Willst du mich verarschen?“

„Nein.“ Sie klang verletzt. „Ich möchte bloß einen warmen, sicheren Ort, um zu trocknen und meinen Besinnlichkeitsstaub wieder einzusammeln. Naja“, sie seufzte, „und Kakao und Kekse natürlich. Und wenn du noch dicke Socken hättest und einen Draht, mit dem ich...“

„Unglaublich“, unterbrach Kai und wollte sie gerade rausschmeißen, als sie nieste. Glitter stob durch die Luft und rieselte über ihn. Die Wut, die er empfand, verpuffte.

 

Er betrachtete ihr ramponiertes Äußeres und hatte plötzlich Mitleid. Egal, ob sie wirklich eine Fee war oder nur ein Mädchen mit einer verrückten Geschichte: Sie hatte an seine Tür geklopft und um Hilfe gebeten. Kai lächelte. „Ich mache mal Kakao.“

 

(Katja Kobusch)


Hinter dem Zaun

 

Sie zuckte zusammen, als die Spitzen des Stacheldrahts ihre Hand aufrissen. Aber Schmerz war sie gewohnt, wurde ihr doch täglich gepredigt, dass dieser zum Leben dazugehörte.

 

Dort drüben, auf der anderen Seite des Zauns, gab es Weihnachten. Ein Fest, auf das sich alle zu freuen schienen, und in diesem Jahr war Barr wild entschlossen, sich dieses Weihnachten mit eigenen Augen anzusehen. Sie drückte den einen Draht nach oben, streckte die Hand aus, um den anderen nach zu drücken.

 

„Stopp! Tu das nicht!“

Barr erstarrte, aber es war nicht ihr Vater, sondern ein Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, das sie von drüben beobachtete. Es sah nicht besonders kräftig aus, hatte ihr also schon mal gar nichts zu sagen. Wieder streckte sie die Hand aus.

„Nicht, sonst stirbst du!“

„Was’n Quatsch! Du willst bloß nicht, dass eine wie ich zu euch rüberkommt.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Blödsinn, aber wenn du zwei Drähte gleichzeitig anpackst, löst du den Kontakt aus, und du wirst getötet. Ich hab das schon mal gesehen“, fügte sie leise hinzu.

Barr schloss ihre Hand fester um die Stacheln, sah teilnahmslos zu, wie die Blutstropfen den Schnee rot färbten. „Also kein Weihnachten für mich.“

 

„Barr!“ Die Stimme ihres Vaters war wie immer voller Hass. „Wo bist du nichtsnutziges, kleines Miststück?“

Verzweifelt suchte sie einen Ausweg, als sich eine andere Hand um den zweiten Draht legte, um ihn niederzudrücken.

„Schnell, komm rüber. Wir feiern zusammen.“

 

Für den Rest ihres Lebens feierte Barr an Weihnachten ihre gewonnene Freiheit.

 

(Anathea North)

 

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