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Türchen Nr. 23 "Eis"

Eine Rose im Eis

 

Es ist ein nasskalter Weihnachtstag. Eine dünne Schneeschicht bedeckt das Land. Schweren Herzens mache ich meinen morgendlichen Spaziergang. Ich muss auf andere Gedanken kommen. Schnell. Aber er ist da, dieser unerhörte Wunsch. Schwerkrank liegt der liebste Mensch im Bett und niemand wagt, auch nur zu hoffen. Er ist weit fort, dem Tode näher als dem Leben. Ob er leidet, weiß ich nicht. Er nimmt die Welt um sich herum nicht mehr wahr. Es bricht mir das Herz, diesen Menschen so zu erleben. Mit Macht versuche ich, süße Erinnerungen vom Bau eines Schneemanns hervorzurufen. Doch die trübe Stimmung bleibt.

Wann stirbst du?

Wie kann ich nur sowas denken? Ist mein Herz zu Eis geworden? Ich liebe ihn und doch will ich, dass er geht. Will ich ihn erlösen, oder bin ich einfach zu müde, um diese Last zu tragen?

 

Plötzlich sticht mir etwas Gelbes ins Auge. Verwundert trete ich zu der Stelle. Am Rande des Weges, der zur Madonna führt, blüht eine gelbe Rose mitten im Schnee. Ich bücke mich. Sie ist taufrisch, prächtig. Aber unmöglich. Null Grad genau sind es. Ich hatte morgens aufs Thermometer geschaut. Ich blicke auf die Madonna. In dem Moment weiß ich, was zu tun ist. Ich knie nieder.

„Nimm du es in die Hand. Wie es dir gefällt, ist es recht.“

Mit diesen Worten fällt eine ungeheure Last von mir. Ich fühle keine Schuld mehr, denn ich wünsche ihm weder den Tod noch ein weiteres Leiden. Befreit gehe ich nach Hause.

 

 (Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

 


Das Versprechen

 

Kai stand in der Warteschlange bei Starbucks, ließ aber immer wieder andere Anstehende vor und tat so, als würde er interessiert die Thermobecher betrachten. Verstohlen warf er Nora einen Blick zu. Warum hatte er der Fee der Weihnacht gestern bloß das Versprechen gegeben, sie vor Heiligabend um ein Date zu bitten?

 

Hinter ihm stand ein als Engel gekleidetes Mädchen und himmelte einen hochgewachsenen Jungen an. Der beugte sich vor und küsste sie, wobei er ihren Heiligenschein verschob.

 „Vorsicht, Raphael“, kicherte sie. 

Kai schmunzelte und ließ die beiden vor.

 

„So wird das nichts“, hörte er plötzlich die Stimme der Fee. Er wirbelte herum, sah sie aber nicht.

„Normalerweise bin ich unsichtbar, schon vergessen? Da du mir gestern geholfen hast, möchte ich mich revanchieren.“

Ein Lufthauch streifte sein Gesicht und urplötzlich fühlte er sich gelassen und wagemutig.

„Das war mein letztes Entschlossenheits-Partikelchen. Es sollte helfen, das Eis zu brechen.“

 

„Danke“, flüsterte er, straffte die Schultern und rückte in der Schlange auf, bis er vor Nora stand.

„Hallo Kai!“ Sie lächelte freundlich. „Caffé Latte zum Mitnehmen, so wie immer?“

Er nickte.

„Sonst noch was?“

„Ähm... ja, einen Schokomuffin und... und... vielleicht mal ein Date?“

Sie sah überrascht auf.

„Das wäre ein tolles Weihnachtsgeschenk.“ Kai lächelte verlegen.

Für einige Herzschläge sah Nora ihn einfach nur an, dann wandte sie sich wieder dem Beschriften seines Bechers zu.

Sein Mut sank, bis sie wieder aufsah, ihm den Becher reichte und ihn anstrahlte: Neben seinen Namen hatte Nora ihre Telefonnummer geschrieben und ein Herzchen gemalt.

 

(Katja Kobusch)


Tückisches Eis

 

Der Sommer war heiß gewesen, so dass sie ohne Probleme ausreichend Beute machen konnte. Mit dem Herbst und seiner farbenfrohen Kühle hatten diese guten Zeiten allerdings schlagartig ein Ende, und verdrossen stellte sie sich auf das übliche, verhasste Fasten ein.

Doch der Herbst zeigte sich nur kurz, um sofort von einem grimmig-kalten Winter abgelöst zu werden. Erst fielen die Temperaturen, dann der Schnee, und bald war ihr Weiher mit einer dicken Eisschicht überzogen. Eine Zeit, in der sie sich wie alle anderen Wasserwesen in die dunklen Tiefen zurückzog, um zu dösen und vom Frühling zu träumen.

 

 Ein Kratzen und Schaben riss sie aus ihrem Halbschlaf. Zu dieser Jahreszeit kam ihre Lieblingsbeute, die zarten Menschlein, normalerweise nicht zu ihrem ziemlich abgelegenen Weiher im Wald, doch ab und an brach ein unvorsichtiges Tier im Eis ein. Wenn auch nicht so deliziös, war es doch ein unerwartetes Geschenk, das es zu ehren galt. Die Geräusche, die nun zu ihr in die Tiefe drangen, hörten sich allerdings anders an. Neben dem Hunger trieb sie die Neugier nach oben, doch die Wellen, die sich an dem Eis brachen, verrieten ihr, dass die Eisdecke unversehrt geblieben war. Was also…

Sie zuckte erschrocken zusammen, als das scharfe Kratzen hinter ihr auftauchte und wie ein Blitz über sie hinwegzischte. Aber der Duft zog sie magisch an, und so glitt sie heißhungrig unter dem Eis hinter ihm her - dem für sie unerreichbaren Schlittschuhläufer. Mit ein bisschen Glück würde er früher oder später auf dünnes Eis geraten.

 

(Anathea DellEste)

 

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