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Auf ein Neues!


Erinnerungen

 

Mitten im Weihnachtsgewühl, am Samstag vor dem vierten Advent, entdeckt Lisa einen Freund aus früheren Zeiten. Sie erkennt ihn sofort, obwohl sich die beiden in den letzten Jahren aus den Augen verloren und nur noch gelegentlich telefonischen Kontakt haben. Die markante Glatze schimmert mit den Lichterketten um die Wette, während er gedankenverloren vor einem Regal mit Dosengerichten steht und dabei an seinem Schnurrbart zwirbelt, dem er den Spitznamen „Mezzo Mongolo“ zu verdanken hat.

„Na Wolfi, suchste wieder mal nach Sonderangeboten?“

Der Angesprochene dreht sich um, strahlt übers ganze Gesicht und nimmt Lisa in den Arm.

„Hey Lisa, schön, dich zu sehen, hab mich schon gefragt, wann ich dich endlich treffe, bin nämlich umgezogen vor drei Wochen, wohn grad um die Ecke, keine 100 Meter von hier.“

„Aah, ich verstehe, du lebst also immer noch nach dem Motto ‚Alles, was weiter als 300 Meter von meiner Wohnung weg ist, ist nicht erlaufbar‘. Ich nehm an, die Spelunke da vorn um die Ecke ist dein neues Stammlokal?“ Außer einem Grinsen kommt keine Antwort. „Und wieso hast du dich dann nicht mal gemeldet, du Trollo?“

„Wollt ich ja, aber es kam immer was dazwischen…weißt ja, wie das ist…aber du stehst ganz oben auf meiner Liste: Lisa anrufen…hätt ich spätestens morgen sowieso gemacht, um frohe Weihnachten zu wünschen.“

Lisas Blick fällt auf Wolfis Einkaufswagen, in dem säuberlich gestapelt zwölf Dosen ‚Feuerzauber Texastopf‘ thronen, daneben liegt ein Stapel Tütensuppen. Einer spontanen Eingebung folgend fragt sie:

„Was machst du übermorgen, an Heiligabend?“

„`ne ruhige Kugel schieben, einen Tag später bin ich bei Schwesterchen und Schwager eingeladen, das ist Rummel genug.“

„Wir feiern auch am ersten Feiertag mit der Familie…haste Lust auf Schnitzel? An Heiligabend? So wie früher, mit lecker Kartoffelsalat?“

Wolfi überlegt nicht lange.

„Klar, warum nicht! Wann soll ich da sein?“

„Halb fünf?“

„Bingo. Soll ich was mitbringen?“

„Ach ne Wolfi, lass mal gut sein“, beeilt sich Lisa zu sagen, bevor sich ihre Wege wieder trennen.

 

Zufrieden wirft Lisa zwei Tage später einen Rundumblick in ihre blitzblanke Küche. Die Schnitzel sind paniert, der noch warme Kartoffelsalat duftet verführerisch, der Tisch ist gedeckt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie noch ein bisschen Zeit hat. Sie schlendert ins Wohnzimmer zu dem Regal mit ihren Tagebüchern, ihr ganzer Stolz. Von der Decke bis zum Boden steht ordentlich aufgereiht der Alltagswahnsinn von Jahrzehnten, sorgfältig durchnummeriert und mit Datum versehen. Lisas Blick schweift über die Buchrücken. Mit geübtem Griff zieht sie ein Exemplar heraus, lümmelt sich in ihren Lieblingssessel neben dem Kaminofen und taucht ein in die Zeit vor fast 30 Jahren.

 

23. 05. 1989:

 …ein Scheißtag heute, vier Wohnungen angeguckt, gleich drei Absagen gekriegt. Was soll ich bloß machen, wenn ich nicht bald ´ne Wohnung find? Bei Wolfi einziehen? Der hat mir das heute nämlich angeboten, als er hörte, dass ich Ende Juni aus meiner Wohnung raus muss…genug Platz hätt er ja… naja, ein bisschen Zeit ist ja noch. Der Wolfi ist ja ein lieber Kerl, aber mit dem Sparbrenner zusammenwohnen, ich weiß ja nicht. Der kauft grundsätzlich nur Sonderangebote und Sachen, die das Haltbarkeitsdatum schon überschritten haben, weil sie dann billiger sind. An und für sich ja sehr löblich, mach ich ja auch, mal von Hackfleisch abgesehen. Aber dem Wolfi graust es ja vor gar nix! Neulich hat er in der Kneipe erzählt, dass er den Joghurt am liebsten mag, wenn sich der Deckel schon nach oben wölbt. Zum Glück war nicht viel los, ich hab auch gleich mal die Musik lauter gestellt, damit den Frühstücksgästen nicht der Appetit vergeht. Und feine Kalbsleberwurst kauft er sich grundsätzlich nur im Sommer. Eine halbe Stunde vor dem Verzehr legt er sie auf die Hutablage seines Autos, das selbstverständlich in der prallen Sonne steht. „Dann ist sie besonders streichfähig“, hat er gesagt. Also, der hat schon ´nen ordentlichen Knall. Und letzten Winter, als es so kalt war, hat er den Kühlschrank ausgestellt und die Sachen auf dem Balkon gelagert, um Strom zu sparen. Als es wärmer wurde, hat er den Kühlschrank schweren Herzens wieder angestellt und alles, bis auf die Joghurts, wieder eingeräumt. „Dann wölbt sich der Deckel schneller nach oben“, hat er gesagt. Und neulich hat er am bumsvollen Tresen herumposaunt, dass er gerne mit einer Feinstrumpfhose bekleidet ein Bad nimmt. Das wäre besser als jeder Orgasmus beim Sex. Kein Wunder, dass die Susi ihm davongelaufen ist. Naja, wer´s braucht, aber ob ich das durch die dünnen Wände seiner Wohnung tatsächlich miterleben möchte, na ich weiß ja nicht. Naja, ist ja noch ein bisschen Zeit…

 

Lisa schmunzelt, überblättert die nächsten Seiten und bleibt wenige Wochen später hängen.

 

24. 06. 1989:

…hab gerade mit Wolfi telefoniert und sein Angebot angenommen. Ist ja nur für kurze Zeit, ich such ja weiter. Ein bisschen mulmig ist mir ja schon dabei. Letzte Woche hat er seinen letzten Weisheitszahn rausbekommen, jetzt hat er sie alle in einem leeren Filmdöschen beieinander und rasselt in der Kneipe jeden Rhythmus aus den Boxen mit. Wenn er das daheim auch macht, versteck ich das Ding, so wahr ich Lisa Leuchter heiße. Und meine Joghurts sind für ihn tabu, das hab ich ihm von vornherein klipp und klar eingebläut, und feine Kalbsleberwurst mag ich sowieso nicht, die kann er von mir aus stundenlang in die pralle Sonne legen. Und das Bad werd ich meiden, wenn er in der Wanne liegt, Kopfhörer auf und Rock´n´Roll. Zum Glück haben wir denselben Musikgeschmack, ich glaub, sonst würd ich durchdrehen. Jeden Abend Wolfi, der mit seinen Weisheitszähnen Roland Kaiser begleitet, oh Gott, das geht gar nicht. Naja, ist ja nur für kurze Zeit…

 

„Daraus ist dann fast ein Jahr geworden“, murmelt Lisa lächelnd, überfliegt die nächsten Wochen, bis sie wieder hängenbleibt.

 

08. 07. 1989:

…Wolfi ist und bleibt der größte Kauz aller Zeiten. Komm ich heut heim, es war scheißheiß, hab vorher noch schnell eingekauft und glatt das Brot vergessen. Samstag, Bäcker schon zu, na bravo, hab ich mir gedacht, der Wolfi sitzt grad beim Frühschoppen und verschwendet garantiert nicht einen Gedanken an unseren Brotvorrat. Dabei war er es, der gestern nach seinem nächtlichen Fressanfall nichts mehr übrig gelassen hat. Sogar das abgelaufene Knäckebrot hat er weggefressen. Es gibt da ja noch den Schrank unter der Arbeitsfläche, wo laut Wolfi die wirklich essentiellen Dinge für Notfälle lagern, aber ich hab´s bisher noch nicht gewagt, dorthin vorzudringen, weiß der Geier, was mich da erwartet.

Zum Glück war noch Salat da. Den rührt Wolfi nicht an, könnten ja ein paar Vitamine drin sein. Ich war grade dabei, den Salat anzumachen, als Wolfi heimkam, natürlich ohne Brot. Ich hab ihn gar nicht erst gefragt, ob er mitessen will und ihn auf sein Arsenal von ‚Feuerzauber Texastopf‘ verwiesen, für den Fall, dass er Hunger hat.

„Bei der Hitze hab ich keine Lust auf was Warmes, da hab ich eine bessere Idee“, hat er gesagt. Danach hat er sich an dem Schrank unter der Arbeitsfläche zu schaffen gemacht. Ich wollt gar nicht sehen, was er da rauskramt und hab mich mit meinem Salat ins Wohnzimmer verzogen. Wolfi hat eine Weile in der Küche rumhantiert und sich zehn Minuten später zu mir auf die Couch gesetzt, in der Hand einen Teller mit drei Broten, dick bestrichen mit Butter, Erdbeermarmelade und, als krönende Schicht, zerdrückte Bananen, die aussahen wie eitriger Auswurf.

„Na dann lass dir´s mal schmecken“, hab ich zu ihm gesagt, „und pass auf, dass du dir an dem alten Brot nicht die Zähne ausbeißt.“ „Das ist kein Brot“, hat er geantwortet, „das ist Christstollen.“ Mir ist die Gabel in den Salat gefallen. Wie er bitteschön im Juli an einen Christstollen rangekommen ist, wollt ich wissen. Die Antwort hätt ich mir denken können,  sonst wär Wolfi ja nicht Wolfi:

„Der ist doch nicht vom Juli, also Lisa, wo kriegste im Juli einen Christstollen her? Der ist von der Weihnachtsfeier unserer Firma, gibt´s jedes Jahr als Geschenk, heb ich immer auf für Notfälle, ist sogar der gute Dresdner mit schön viel Marzipan drin, garantiert nicht verdorben, sag ich dir, ordentlich konserviert, der hält Monate, willste mal kosten?“…

 

Ein Blick auf die Uhr holt Lisa vom Tauchgang in die Vergangenheit zurück. Es ist 16.21 Uhr. Lisa weiß, bei Schnitzel mit Kartoffelsalat steht Wolfi überpünktlich auf der Matte. Sie schließt das Buch und schiebt es an seinen Platz im Regal. Übers ganze Gesicht grinsend geht sie in die Küche und stellt die Herdplatte an, auf der in einer Pfanne ein goldgelbes Stück Butter darauf wartet, zu zerfließen und die saftigen Schnitzel in Empfang zu nehmen. Kurze Zeit später klingelt es. Nach einer herzlichen Begrüßung zieht es Wolfi mit aufgeblähten Nasenflügeln und hungrigem Blick in die Küche, wo er aus der Innentasche seines Anoraks eine rechteckige Dose hervorkramt, die er grinsend an Lisa übergibt.

„Hier, für dich, ein Original Dresdner Christstollen, für Notfälle. Frohe Weihnachten.“

Schmunzelnd nimmt Lisa das Präsent entgegen, beschließt, zu gegebener Zeit das Verfallsdatum zu prüfen und haut die Schnitzel in die Pfanne.

 

Olga Odl aus Unterfranken

 


 

 

Noch ist das Neue Jahr

ganz frisch und unbelastet!

Mögen Eure Träume reifen,

Eure Wünsche sich erfüllen und

Eure Ziele in Greifweite rücken.

Machen wir das Beste daraus!

 

Alles Liebe und Gute

für 2019

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Olga Odl (Dienstag, 01 Januar 2019 15:33)

    Liebe Anathea,
    ich wünsche dir alles erdenklich Gute für das Neue Jahr. Danke, dass du meine Geschichte eingestellt hast. Ich habe die Geschichten deines Adventskalenders sehr gerne gelesen, toll! Auch der Rest deiner Homepage gefällt mir ausgesprochen gut. Schön, dass ich mit meinen Erinnerungen Teil davon sein darf.
    Ich freue mich auf zwölf jungfräuliche Monate, die ich mit dir und anderen Schreibverrückten teilen darf.
    Ganz liebe Grüße, Olga