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Monatsgeschichte Januar: Im Monat der Orkane

Im Monat der Orkane

 

Die Geschichte beginnt an einem verregneten Januartag. Seit Tagen gießt es in Strömen, ein kräftiger Wind pfeift durch die schmalen Gassen. Wie immer bei so einem Wetter sitzen Tina und ihr älterer Bruder Thomas im Salon. Beide langweilen sich zu Tode. Tina würde gerne ihr Lieblingsbuch weiterlesen, aber seit drei Tagen ist der Strom ausgefallen. Folglich kann sie ihr Lesegerät nicht aufladen. Thomas hat keine Ersatzbatterien für die Spielkonsole, denn die Eltern wollen sie für die Taschenlampen aufsparen.

 „Blöder Regen. Wenn wir wenigstens nach draußen dürften“, mault Thomas.

Tina ist derweil zum x-ten Mal aufgesprungen, um den Lichtschalter zu betätigen. Wenn die Lampe angeht, ist der Strom zurück. Doch die LED-Leuchte bleibt dunkel.

„Ich wünschte mir, der Winter wäre wie in den Märchen. Kalt, mit etwas Regen und diesen weißen Puder, mit dem man so viele tolle Sachen machen kann. Das muss doch schöner sein, wenn man nicht jede Woche in den Keller flüchten muss, weil ein Orkan aufzieht“, meint Tina.

Beide Kinder kennen weder die strengen Winter mit viel Schnee ihrer Großeltern, noch die milden Januar-Monate, die zur Zeiten ihrer Eltern herrschten. Ihr Winter ist ein Wetterextrem. Wochenlanger Regen, der die Flüsse über die Ufer treten lässt, jede Woche fegt ein Orkan über das Land. Schnee haben die beiden nie gesehen.

 

Die Mutter betritt die Stube und hält Thomas eine Taschenlampe hin.

„Könntet ihr beide auf den Dachboden gehen? Dort soll es noch eine uralte Dymo-Taschenlampe geben. Hoffe ich zumindest. Und bringt die Polardecken runter, heute Nacht soll es einen Temperatursturz geben.“

Beide Geschwister gehen ohne Protest nach oben. Sie wissen, dass es um das Überleben geht. Da mault man nicht zurück: Ich möchte spielen. Außerdem ist ihnen sowieso langweilig.

„Wo sollen wir suchen, Mutti?“

„Im alten Bauernschrank, meine Schneeflocke.“

Tina folgt ihrem Bruder, das Steigen wärmt sie etwas. Sie kuschelt sich tief in ihren Parka. „Weißt du, was eine Dy… dingsda ist?“

„Eine Dymo ist eine Lampe mit einer Kurbel. Du drehst und sie lädt sich ohne Strom auf. Leider dauert das nie lange und sie ist sehr schwach. Sie gehörte Opa.“

 

Der Dachboden ist ein besonderer Ort, man könnte fast sagen, ein Museum. Gegenstände, für die niemand mehr eine Verwendung weiß, stehen nutzlos herum und fangen Staub. Da gibt es Brettspiele, alte Bücher, Bleistifte, einen Malkasten. Am spannendsten findet Tina die Spieluhr. Jedes Mal, wenn sie daran dreht, erklingt eine wunderschöne Melodie und eine Fee beginnt auf einer weißen Fläche zu tanzen. Tina dreht die Spieluhr nur bei Sonnenschein. Selbst das ist laut ihrem Bruder gefährlich.

Immer denkt er an dem Nachbarjungen, der, um sich eine Wollmütze zu holen, nach oben gegangen war. Die Eltern hatten noch gerufen, er solle in den Keller kommen, aber er wollte nicht hören. Plötzlich war das Dach weg und er wurde fortgeweht. Das Wetter kann so schnell umschlagen, dass niemand länger als unbedingt nötig unter dem Dach verbringt.

Tina wühlt im Schrank, während Thomas die Decken nach draußen schleppt.

„Findest du etwas?“

„Nein. Ich glaube, sie muss hinten liegen. Du hast gesagt, sie gehörte Opa.“

Thomas erschrickt. Das Knarren wird lauter, das Gebälk ächzt. „Komm, wir müssen ohne auskommen. Lass uns die Decken runterbringen.“

Aber Tina hört nicht hin. Sie spurtet nach hinten, zieht das große Leinentuch herunter und erstarrt. Ein Schlitten aus Holz steht vor ihr. Fassungslos, für einen Augenblick die drohende Gefahr vergessend, gleitet ihre Hand über die Kufen. „Thomas, ich habe einen Schlitten gefunden.“

„Mach keinen Quatsch. Komm zurück. Das gibt es nicht.“

„Komm schauen.“

Thomas rennt zu ihr ihn. Auch er ist beim Anblick des Schneegefährts baff. In dem Moment erschüttert ein ohrenbetäubender Lärm das Haus, es ist, als ob sich rasende Züge dem Haus nähern würden. Er kennt das Geräusch. Ein Tornado kommt auf sie zu.  Thomas packt seine Schwester am Arm und rennt mit ihr nach unten. Warum gehen die Sirenen nicht los? Jäh löst sich das Dach und alles wird dunkel.

 

Ein Sonnenstrahl kitzelt Tina wach. Verwirrt reibt sie sich die Augen. Um sie herum, wohin das Auge sieht, liegt Schnee. Unweit von ihr steht der Schlitten. Wie ist sie an diesen Ort gekommen? Wo ist Thomas? Sie setzt sich auf den Schlitten und beginnt laut zu rufen.

„Keine Angst Kleines, du bist in Sicherheit. Magst du mit mir kommen, in das Land, wo Kinder glücklich sind, es keine Stürme und Gefahren mehr gibt?“

Tina reibt sich beim Anblick der Schneefee die Augen. Sie nickt und reicht ihr die Hand. „Kommt mein Bruder auch?“

„Später kommt er nach. Sieh mal, wer dort kommt. Erkennst du ihn?“

Peter?“

Peter tritt strahlend auf sie zu, vom schüchternen, mageren Jungen ist nichts übrig. Tina lächelt, denn Furcht und Kälte sind vergessen. Friede ist alles, was sie fühlt.

 

Unten auf der Welt geht die Sonne auf. Die Leute stehen um das zerstörte Haus. Thomas hat wie durch ein Wunder überlebt. Doch zum Jubeln gibt es keinen Grund, denn Tina wurde hundert Meter neben einem Schlitten auf einem offenen Feld tot aufgefunden.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

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