· 

Monatsgeschichte Januar: Wolfsmond

Wolfsmond

 

Dinka stieß die schwere Tür der Holzhütte auf und blinzelte in die warme, von der Feuerstelle erleuchtete Stube. Hastig schob sie die Tür wieder hinter sich zu, damit die beißende Kälte draußen blieb. Der erste Monat dieses Jahres hatte besonders viel Eis und Schnee über das abgelegene Dorf gebracht, so dass jeder froh war, wenn er das Haus nicht verlassen musste.

„Mutter? Wo bist du? Ich habe die Butter bei der alten Gimla abgegeben. Sie hat mir dafür ein wenig getrocknete Kamille, Beifuß und Karde gegeben.“

„Leg die Kräuter auf den Tisch in der Kammer und dann setz dich zum Essen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Der strenge Tonfall ließ keinen Zweifel aufkommen; ihre Mutter war nicht in Stimmung für Widerspruch.

Verdutzt gehorchte Dinka, zumal die sämige Suppe einen köstlichen Duft verbreitete, der sie und vor allem ihren knurrenden Magen daran erinnerte, dass die letzte Mahlzeit schon etliche Stunden zurücklag. Während sie schluckte und kaute, sah sie mit wachsender Verwirrung zu, wie ihre Mutter ein Bündel mit Kleidung und Nahrung zusammenschnürte, wie man es oft bei Wanderern sah.

„Was tust du da?“, fragte sie mit vollem Mund und ignorierte den missbilligenden Blick, den sie dafür erhielt. „Wer geht denn auf Reisen?“

„Du“, lautete die unerwartete Antwort. „Sieh zu, dass du fertig wirst. Du musst zügig aufbrechen. Ich habe einen Brief an deine Tante eingepackt, das sollte ausreichen, damit sie dich aufnimmt und für deine Ausbildung sorgt.“

Dinka erstickte fast bei dem Versuch, gleichzeitig zu schlucken und zu sprechen. „Was? Jetzt? Mitten im Winter? Dazu noch nachts? Was ist denn los?“

Ihre Mutter ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hand fest zwischen ihre. „Es ist meine Schuld, ich hätte schon viel früher mit dir über die Regeln sprechen sollen, nach denen wir hier leben. Durch den harten Winter wird der Tribut eher fällig, und wir haben beide genügend Warnungen erhalten, dass ich dieses Mal nicht alleine zahlen soll, nicht wahr?“

Jetzt verstand sie gar nichts mehr. „Wovon redest du? Wofür solltest du denn zahlen müssen? Die Leute kommen doch zu dir und entlohnen dich, wenn sie Probleme haben.“

„Das stimmt, und doch sind Heilerinnen, Kräuterkundige wie ich nur geduldet. Wir sind selten vermählt, haben dennoch Kinder, wenn wir es wollen. Wir sorgen selbst für unseren Unterhalt und sind keinem Mann Rechenschaft schuldig. Du weißt, dass unsereins damit gegen alle Gesetze verstößt, die für die anderen Frauen gelten.“

„Na und?“ Dinka zuckte mit den Schultern. „Wenn die sich lieber sagen lassen, was sie zu tun und zu lassen haben, dann...“

„Nein“, wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen. „So einfach ist das nicht. Ja, sie gehorchen, aber dafür stehen sie auch unter Schutz. Dem ihres Mannes, dem der Familie und dem des Dorfes. Wir nicht, mein Kind, wir müssen dafür zahlen.“

Der traurig-besorgte Ausdruck, mit dem sie Dinka musterte, lag schon seit einiger Zeit in den Blicken der Mutter. Das wurde dieser ganz plötzlich bewusst. Angefangen hatte es, als sie ihr erzählte, dass der Schumacher derbe Bemerkungen über ihre Brüste gemacht hatte.

„Machst du dir etwa Sorgen, weil die Kerle im Dorf jetzt manchmal anzüglich werden? Mit denen werde ich schon fertig!“

Der Druck um ihre Hand wurde fester. „Nein, das wirst du nicht. Hast du denn schon einmal gehört, dass ein Mann solche Worte über die Tochter seines Nachbarn durch den Ort gebrüllt hat?“ Als Dinka den Kopf schüttelte, fuhr ihre Mutter fort: „Nein, natürlich nicht, denn diese steht auch unter dem Schutz der Gemeinschaft.“

„Ich muss also mein Zuhause verlasen, weil…“ Dinka konnte mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören.

„Weil wir Außenseiter sind, ja. Und nun mach hin, damit sie dich nicht doch noch erwischen.“

„Aber…“

„Keine Widerrede! Du wirst zu deiner Tante gehen. Sie kann dir mehr über die Regeln erzählen und darüber, was geschieht, wenn man sich nicht daran hält.“ Dinkas Mutter seufzte, als sie die finstere Miene der Tochter sah. Leise sprach sie ihr ins Gewissen. „Wenn du nicht gehst und dich zur Wehr setzt, werden sie dir wehtun. Und wenn sie das tun, werde ich mich einmischen, um dich zu verteidigen. Am Ende braucht das Dorf vielleicht eine neue Heilerin, weil wir beide tot sein werden.“

Dinka schnappte entsetzt nach Luft. „Was? Soweit würden sie gehen? Und niemand würde sie dafür bestrafen?“

 

Kurze Zeit später überquerte ein einsamer Wanderer die freien Felder, um in die Schwärze des Waldes einzutauchen. Die Kälte konnte Dinka noch nichts anhaben, da sie innerlich vor Wut, Hass und Enttäuschung kochte. Ihr ganzes Leben hatte sie an diesem Ort verbracht, kannte jeden dort, und viele der Männer hatten ihr Dinge beigebracht, ihr Geschichten erzählt, sie getröstet, wenn sie sich verletzt hatte. Und jetzt sollte sie dafür zahlen? Sie knirschte mit den Zähnen und blieb am Waldrand stehen, um noch einmal auf ihr Zuhause zurückzuschauen. Ihre Mutter hatte zurecht auf Eile gedrängt, denn der Fackelzug war schon auf dem Weg zu der abgelegenen Hütte. Feiglinge! Der Vollmond schenkt Licht genug, aber ihr braucht Fackeln, weil ihr euch vor der Nacht fürchtet!

Ein Wolf erhob die Stimme, ließ sein Heulen durch die Dunkelheit tönen und erhielt umgehend Antwort von den anderen seines Rudels. Dinka schnaubte abfällig, als sie sah, wie aus der langgezogenen Fackelkette ein dicht gedrängter Klumpen wurde. Ihr fürchtet euch vor Wölfen, und ihr habt allen Grund dazu. Ein Wolfsrudel hält wirklich zusammen, da gibt es keine Hinterhältigkeit wie bei uns Menschen. Sie wartete ab, bis alle Fackeln im Schnee gelöscht und die Männer von ihrer Mutter eingelassen worden waren. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass der speziell gewürzte Wein tatsächlich rasch über die Enttäuschung hinweghalf, dass das erhoffte Entjungfern nicht stattfinden würde. Wieder flammte die Wut in Dinka auf.

Ich komme wieder, versprach sie sich, ihrer Mutter, aber ganz besonders jenen Männern, die sich nun vergnügen würden. Und dann werde ich Tribut von euch einfordern.

(Anathea DellEste)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0