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März - Märchenstunde: Es war einmal der Tod

Es war einmal der Tod

 

Marlene setzte sich an das Bett ihrer Tochter. Angela lächelte und zog das dicke Märchenbuch heraus. Hastig blätterte sie darin. „Aschenputtel, bitte.“

„Schon wieder?“

„Ja. Ich mag es, wie ihre Mutter ihr vom Himmel aus hilft.“

Marlene begann zu lesen. Mit aller Macht versuchte das Kind, wach zu bleiben. Aber als Aschenputtel und der Prinz Hochzeit feierten, war es schon fest eingeschlafen.

Ein „Huhu“ weckte Angela aus dem süßen Schlaf. Sie schob das Ohr ihres Uhu-Weckers zurück, um die Weckfunktion zu stoppen, und strich mit der Hand über ihre Bettkante. Es duftete herrlich nach Lavendel. Mamas Lieblingsshampoo. Das Buch war ordentlich in das Regal zurückgestellt worden. Auf ihrem Stuhl waren Strümpfe, eine Hose und ein dickerer Pulli gelegt worden. Heute würde es kälter werden. Mutti irrte sich darin nie. Angela schlüpfte hastig hinein, strich sich ihr Haar glatt.

 

„Morgen Oma. Darf ich heute heißen Kakao haben?“ Lächelnd hielt sie ihre Tasse hoch.

„Was macht dich heute glücklich?“, fragte die Oma, während sie das Pulver mit der Milch verrührte.

Angela strich sich derweil ein Marmeladenbrot und legte es in ihre Brotschachtel. Besser sie tat es selbst, denn auf ihre Großmutter war in letzter Zeit wenig Verlass. „Ich werde heute meinen Schal brauchen. Es wird kalt.“

„Guten Morgen, mein Spatz.“ Triefend nass trat Lukas in die warme Küche. Er zog seine Jacke aus und umarmte seine Tochter. Katherine schenkte ihm Kaffee ein.  „Wie war die Schicht?“

„Grauenhaft. Drei Krankenscheine und zwei neue Patienten. Angela, wird es Winter?“  Er starrte auf den Pulli und die wollenen Socken.

„Heute schneit´s. Dann leg ich mich in den Schnee und mache eine Engelsfigur. Du, Papa, für meinen Geburtstag hätte ich gerne das Buch „Märchenstunde“. Dort soll das Märchen des Mädchens mit den Zauberhölzer drin sein.“

„Findest du nicht, du könntest lustigere Sachen lesen?“

„Im Märchen ist der Tod überall. Und auf Comics hab ich keine Lust.“

„Von wem hast du den ersten Satz aufgeschnappt?“

„Mama.“

 Betroffen starrte ihr Vater sie an, nahm einen Schluck Kaffee.

Angela sah zum Fenster hinaus. „Kuckt, es schneit. Sie hatte Recht. So wie damals mit dem Regen. Da habt ihr auch gelacht, als ich die Gummistiefel angezogen hatte.“

„Ja. Du, es wird Zeit für die Schule. Komm, ich begleite dich nach draußen.“

Angela hastete in den Flur und wartete mit ausgestreckter Hand. In ihrem Blick leuchteten Tränen.

 

Am Abend kam Marlene wie üblich zu ihrer Tochter. Angela hatte bereits das Buch aufgeschlagen. Diesmal würde sie nicht einschlafen.

„Sterntaler? Das ist aber ein kurzes Märchen.“

„Aber dann schlafe ich nicht ein.“

Marlene schüttelte den Kopf. Ihr Wirbelwind hatte bereits diesen Trick genutzt, um auf den Nikolaus zu lauern. „Dann werde ich singen.“

„Au fein. Bleibt der Schnee?“

„Morgen noch. So, leg dich hin.“

Als sich das neue Hemd über das Mädchen straffte, war Angela eingeschlafen. Ihr Plan war nicht aufgegangen.

 

Am nächsten Morgen hatte Angela keinen Grund sich zu freuen. „Ich will nicht zum Doktor. Sie kann mich nicht trösten. Mama kann das besser.“

„Angela, deine Mama ist im Himmel. Das weißt du doch.“ Erschrocken blickte Lukas seine Tochter an.

„Aber sie kommt jede Nacht zu mir um mir vorzulesen. Und sie bereitet mir meine Kleider vor. Sie kümmert sich noch um mich! Deshalb will ich die Märchenstunde.“

Bestürzt starrten sich Lukas und Katherina an. Endlich war es heraus. Die Oma biss sich auf die Lippen. Auch Lukas war sprachlos.

„Dauernd musst du arbeiten und wenn du da bist, bin ich in der Schule. Und Oma mag nicht lesen.“

„Oh, Spatz. Lass uns reden. Wir finden einen Weg. Versprochen.“

 

Am Abend wartete Angela auf die Mutter. Die Tür ging auf und ihr Vater trat mit der „Märchenstunde“ herein. „Deine Oma wird selbst zu einem Arzt gehen. Und ich lese dir vor.“

„Musst du nicht arbeiten?“

„Morgens, wenn du in der Schule bist. Ich habe mit meinem Chef gesprochen.“ Er nahm das Buch auf den Schoß. Erwartungsvoll kuschelte sich Angela in ihre Kissen. Als Lukas anfing zu lesen, hielt er mitten im Satz inne. Am Fenster lehnte lächelnd seine Frau. Sie hauchte ihm einen Luftkuss zu, während sie sich auflöste.

 

(Havenne Therese, Autorin aus Luxemburg)

 

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