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April - Aufbruchsstimmung: Angst verleiht Flügel

Angst verleiht Flügel

 

Juchzend und lachend packen die kleinen Engel ihre Sachen zusammen. Alle sind in Aufbruchsstimmung, denn heute ist ihr erster Ausflug auf die große, weite Welt. Nur einer nimmt nicht teil an der allgemeinen Freude. Mit betrübtem Gesicht sitzt Dore in seiner Ecke und starrt auf die weißen Wolken draußen. Er wird nicht mitgehen. Nicht etwa, weil er ungehorsam war und bestraft wurde. Nein, so komisch es ist, er hat Angst vorm Fliegen.

Solfami geht neben ihm in die Hocke.„Pass auf, heute Mittag gebe ich dir extra Flugstunden. Du wirst sehen, so schlimm ist das Ganze gar nicht. Wenn du einmal in der Luft bist, dann ist die Furcht rasch vergessen.“

Dore nickt. Überzeugt ist er nicht. Seine Lehrerin beweist, dass Engel sehr geduldig sind. Selbst mit einem Angsthasen wie ihm.

 

Mit hängenden Flügeln begibt sich Dore zu seinem Beobachtungsposten. Von dort hat er einen wunderbaren Blick auf die Erde. Freilich ist es nicht dasselbe, als selbst da unten zu reisen. Er wird weder den Wind durch seine Schwanenfeder pfeifen hören, noch dessen kalten Kuss auf seinen Wangen spüren. Aber das macht ihm nichts aus. Hier fühlt er sich wohl. Er mag es, die Natur zu beobachten, den Vögeln beim Pfeifen zuzuhören. Ein Platz hat es ihm besonders angetan. Es ist ein See inmitten eines Tannenwäldchens. Dort trinken Rehe bei Tagesanbruch, Füchse huschen durch das Gras zurück zu ihrem Bau, Hasen hoppeln durch das angrenzende Stoppelfeld. Im Augenblick sind sie schwer auszumachen, denn sie sind weiß wie Schnee, und die Märzsonne hat noch nicht alles Winterliche abgetragen. Auch das Binnengewässer ist noch gefroren. Die Märzsonne spiegelt sich darin in einem lustigen Farbenspiel.

„Ach, könnte ich so schön malen wie die Sonnenstrahlen, oder so stimmungsvoll singen wie die Vögel.“, seufzt er. Leider hat Dore bisher für nichts eine Begabung gezeigt. Gerne wüsste er, wozu er gut ist. Jedenfalls hat er weder Talent, um im Himmelschor zu singen, noch Fantasie, um als Muse zu dienen. Und als Furchtengel wird er kaum zu den Tröstern dürfen. Dafür müsste er erstmal zu den Menschen kommen. Dazu gehört Fliegen.

 

Ein fröhliches Lachen unterbricht Dores Gedankengänge. Er hebt den Kopf und sieht wie sich eine Gruppe von drei Kindern dem See nähert. Dore legt sich bäuchlings, um das Ganze besser zu beobachten. Ein kleines Mädchen wirft einen Schneeball, den sie aus dem Rest des weißen Pulvers geformt hat. Das lässt der etwas größere Junge nicht auf sich sitzen und wirft eine eigene Kugel. Bald ist eine fröhliche Schlacht im Gange. Immer übermütiger werden die kleinen Menschen. Dore erschreckt, als er das kleine Mädchen auf das Eis laufen sieht.

„Sophie, komm zurück“, schreit der große Junge.

Ein lautes Knacksen lässt alle hochfahren. Dore schaut sich suchend nach einem Erwachsenen in der Nähe der Kinder um, aber niemand ist da. Eine Sekunde lang überlegt unser kleiner Engel, ob er zu Fasol, dem Oberleitner der Schutzengel laufen soll.

„Nein, das dauert zu lange.“, sagt sich Dore. Ohne weiter nachzudenken, breitet er seine Flügel aus und fliegt auf die Welt herab. Unten bietet sich ihm eine kniffelige Lage. Unter Sophie hat das Eis feine Ritzen gebildet, Wasser schwappt über die Schollen. Hektisch winken ihre Freunde am Ufer, aber das kleine Mädchen bleibt mit weit aufgerissenen Augen auf der Stelle stehen. Klack, klack, immer weiter bricht das Eis in Stücke, die Märzsonne hat es in der Mitte des Sees dünn werden lassen. Dore schaut auf die anderen Kinder.

„Bleibt am Ufer, holt Hilfe!“, raunt er. Zu seinem Staunen rennt das andere Mädchen davon. Der Junge bricht einen Ast ab, streckt ihn Sophie entgegen. Es ist, als ob sie ihn gehört hätten.

„Verflixt, zu kurz!“ Hektisch bricht der Junge den nächsten Zweig ab.

„Ich schaffe es nicht“, schreit Sophie.

 

„Beweg dich nicht, sonst bricht das Eis schneller. Nimm meine Hand.“

Sophie sieht zu Dore auf. Augenblicklich wird sie ruhiger und ergreift die rettende Hand. Mit einer ungeahnten Kraft zieht der Engel Sophie hoch. Einzig die Fußspitzen berühren noch das Eis. Im Flug zieht er Sophie aus der Gefahr heraus und führt sie ans Ufer. Der Bruder merkt von alledem nichts, er ist zu beschäftigt damit, einen größeren Zweig zu brechen.

„Danke.“

„Gern geschehen.“

Sophie drückt Dores Hand.

„Thomas, ich bin hier.“

Der Junge eilt zu ihr hin, schaut sie verwundert an. „Hui, das war knapp. Wie hast du das geschafft? Geht es, Schwesterchen?“

„Ja, Thomas. Mein Schutzengel hat mich herausgeholt.“

Ihr Bruder drückt sie an sich. „Dann werden wir heute ein Licht für ihn anzünden. Komm, lass uns nach Hause laufen. Nele hat bestimmt schon Alarm geschlagen.“

„Darf mein Helfer mitkommen?“

 

Dore spürt wie sich eine Hand auf seine Schulter legt. Er wirbelt herum. Fasol lächelt ihn an.

„Nein. Nur Sophie sieht dich. Ihr Bruder wird einfach mitmachen, weil er froh ist, dass es seinem Schwesterchen gut geht. Lass sie gehen.“

Dore nickt und schaut den beiden davongehenden Kindern lange nach. „Hast du verhindert, dass die zwei auch aufs Eis laufen?“

Fasol schüttelt verneinend den Kopf, sein Grinsen wird immer breiter. „Du hast alles alleine gemacht. Ab heute kommst du zu mir in die Lehre. Deine Gaben sind die eines Schutzengels.“

„Aber ich hatte Angst vorm Fliegen.“

„Umso besser. Dann weißt du, was es bedeutet Furcht zu haben und das hilft dir bei deinen Aufgaben. So wie jetzt eben. Du hast beruhigend auf Sophie eingeredet, du wusstest selbst was Angst mit einem macht. Komm, lass uns nach Hause fliegen.“

Leicht wie eine Feder schwebt Dore in den Himmel zurück.

(Havenne Therese, Autorin aus Luxemburg)

 

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