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Monatsgeschichte April: Wandelmond

Wandelmond

 

Nicht nur Dinka war völlig am Ende, als sie nach dem gefährlichen Abstieg und tagelanger Wanderung endlich vor den mächtigen Toren der Burg ankamen. Auch Jiris und Gronte wankten unter Aufwand ihrer letzten Kraftreserven unter dem steinernen Bogen hindurch, um sich stöhnend neben dem Brunnen in der Mitte des Burgplatzes niederzulassen.

„Keinen Schritt mache ich mehr, das sag ich euch“, krächzte der Vagabund, dem sein üblicher Unfug in den letzten Tagen gründlich abhandengekommen war. Anklagend schaute er Keti nach, die mit federnden Schritten von Tür zu Tür eilte, um hineinzuspähen. „Sowas ist doch nicht normal.“ Er stieß dem jungen Chronisten in die Seite, der in sich zusammengesunkenen neben ihm saß. „Haben die vielleicht einen Wundertrank dabei, der ihre Kräfte immer wieder auffrischt?“

„Ich fürchte, das hat eher etwas damit zu tun, dass es mit unserer Ausdauer nicht weit her ist“, gab dieser mit matter Stimme zurück. „In Schreibstuben gibt es nicht viel, das man für seine körperliche Ertüchtigung tun kann.“

Dinkas Körper forderte zwar seinen Tribut, aber ihre Neugier ebenso. Sie musterte den hageren Jüngling, der in einen Raum voller Bücher, Papier und Schreibwerkzeug mit Sicherheit besser aufgehoben wäre, und konnte ihre Fragen dann einfach nicht mehr zurückhalten. „Weshalb bist du denn in dieser abgeschiedenen Gegend auf Wanderschaft, wenn du eigentlich lieber Schriftstücke verfasst? Besuchst du deine Familie?“

Wie immer, wenn sich die Aufmerksamkeit auf seine Person richtete, errötete Gronte, was ihn noch jünger wirken ließ. „Nein, nein, meine Familie kommt aus der Stadt. Weißt du…“, er schenkte Dinka ein schiefes Lächeln. „Ich will nicht ewig ein dritter oder vierter Schreiber bleiben. Ich will ein berühmter Chronist werden, und dazu muss man viel reisen. Am besten zu Orten, an denen noch nie jemand war. Ich glaube nicht, dass man in der Stadt schon einmal von all den Sagen und Legenden gehört hat, die man sich hier in der Gegend erzählt.“ Sein Blick huschte hinüber zu dem Sternen-Elb, der sich seit dem misslungenen Überfall nur noch mehr von den anderen zurückgezogen hatte.

Jiris schüttelte warnend den Kopf. „Denk nicht einmal daran. Sollte Rune jemals Wind davon bekommen, dass du irgendwo Geschichten über weiße Elben herumerzählst, wird Keti dir einen Besuch abstatten, und zwar keinen freundschaftlichen. Du hast einen Schwur abgelegt.“

Grontes Gesicht färbte sich dunkelrot vor Aufregung. „Aber die Menschen wären begeistert. Jeder würde sich darum reißen, ihn aufzunehmen, ihm Schutz zu bieten.“

„Ach, wirklich? Ich würde eher darauf wetten, dass sich bald einige finden, die sich der Jagd auf ihn anschließen würden.“ Jiris spuckte angewidert aus. „Manche tun einfach alles für ein bisschen Geld.“

Es schien ein guter Zeitpunkt, ihm ein paar Informationen zu entlocken. „Sag mal, Jiris, was war das für eine Gestalt dort oben auf dem Felsen? Wer hat etwas gegen Sternen-Elben, und vor allem warum?“ Dinka schenkte ihm ihren unschuldigsten Blick, auf den er allerdings nur mit einem amüsierten Schnauben antwortete.

„Möchtest wohl, dass ich Ärger mit Keti kriege, was? Solche Fragen stellst du besser Rune oder dem Elben selbst. Wenn ich es allerdings recht bedenke, sollest du es besser sein lassen, denn da sind die beiden etwas empfindlich.“

„Ach ja? Vielleicht bin ich auch ein bisschen empfindlich, wenn man mir vorschreibt, was ich zu tun habe, nur weil ich helfen wollte? Wäre schon schön zu wissen, wovor man sich in Acht nehmen muss.“

In ihre Unterhaltung vertieft bemerkten sie nicht, dass der Dritte im Bunde verstohlen davonschlich und in der verlassenen Burg verschwand.

 

Gronte suchte die Einsamkeit, um in Ruhe über die Worte von Jiris nachzudenken. Was nutzte es, in der Welt umherzureisen, wenn man am Ende nicht davon erzählen durfte? Völlig in seine Gedanken versunken durchquerte er die verfallene Eingangshalle, bog mal nach links, mal nach rechts ab, während er das Problem drehte und wendete. Wenn er von den Sternen-Elben erzählen würde, lägen ihm wahrscheinlich der gesamte Adel und sogar das Herrscherhaus zu Füßen. Man würde Bankette zu seinen Ehren veranstalten und verzückt an seinen Lippen hängen. „Da kommt Gronte, werden sie sagen, der einzigartige Chronist längst vergangener Geschichten. Lasst uns seinen Worten lauschen!“ Er lachte über diese Träumerei, fand aber zugleich immer mehr Gefallen an der Vorstellung.

„Dann habe ich heute einen Mann von hoher Bildung zu Gast? Diese Ehre wurde mir schon lange nicht mehr zuteil.“

Ihm entfuhr ein Aufschrei, was ihm unendlich peinlich war, als er herumwirbelte und sich mit einer schönen Fremden im Zimmer wiederfand. Doch sie ging darüber hinweg, als hätte sie seinen Schrecken nicht bemerkt. „Sei herzlich willkommen, Fremder.“

„Uh, ich... nun, ich hatte keine Ahnung, dass diese Burg noch bewohnt ist. Verzeiht bitte vielmals, wenn ich ungefragt in Eure Gemächer eingedrungen sein sollte.“ Mit einer halbwegs eleganten Verbeugung versuchte er den ersten, wenig schmeichelhaften Eindruck wieder wettzumachen.

„Aber nicht doch“, wehrte sie ab. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich gerade jetzt über Besuch freue. Und dann auch noch ein Bewahrer alter Geschichten, das ist irgendwie passend.“ Ihr Lächeln vertrieb seine Verwirrung über diese Worte, und er beeilte sich, seinen Namen zu nennen.

„Gronte von den Hollern, stets zu Diensten. Ich bin ein Chronist auf Reisen und würde mich freuen, Euch mit meinen Geschichten unterhalten zu können.“

„Du scheinst ein wahrhaft kluger Mann zu sein. Sag mir, junger Gronte, was ist das Besondere am vierten Monat des Jahres?“ Ihr Blick schien ihn zu liebkosen und verstärkte das warme Gefühl, das ihre bewundernden Worte in ihm ausgelöst hatten.

„Der… der April wird auch ‚Wandelmond‘ genannt. Weil sich das Wetter zu dieser Zeit täglich oder sogar stündlich ändern kann“, klaubte er schnell sein Wissen darüber zusammen.

„Das stimmt“, gurrte die bezaubernde Schönheit und kam langsam auf ihn zu. Mit einer Hand nestelte sie an dem Medaillon, das sie an einer Kette um ihren schlanken Hals trug, und lenkte Grontes Blick damit auf ihr tief ausgeschnittenes, prall gefülltes Mieder. Sofort färbte sich sein Gesicht leuchtendrot, worauf sie mit einem leisen, sinnlichen Lachen antwortete. „Aber es gibt noch mehr, das genau jetzt im Wandel ist, mein Liebster.“

Zu seinem Erstaunen bot sie ihm den rosigen Mund zum Kuss, was er sich auf keinen Fall entgehen lassen konnte. Was für eine Geschichte! Doch als er sie liebevoll umfassen wollte, griffen seine Arme ins Leere und statt warmer Lippen streifte ein eiskalter Hauch sein Gesicht. Mitten in seiner Verwirrung traf ihn der heiße Schmerz völlig unerwartet. Er schaute an sich herunter, sah den schwarzen Dolch, der in sein Herz gestoßen war, und fand dennoch Zeit, sich über das fehlende Blut zu wundern. Der Schmerz ließ nach, doch stattdessen überkam ihn eine fürchterliche Schwäche.

„Jetzt, mein Geliebter, wandelst du dich“, hauchte ihm sein Verhängnis ins Ohr, während sie ihn packte, bevor er zu Boden sinken konnte.

„Was? Aber eben… Eben konnte ich dich nicht spüren.“ Grontes Finger strichen schwach über die Schultern, das seidig-weiche Haar. „Wie ist das möglich?“

Bevor sich ihre Lippen auf seine legten, um die Wandlung zu vervollständigen, flüsterten sie ihm zu: „Unter dem Wandelmond können sich Schattengänger einen Körper formen. Einen verlockenden Körper wie diesen, der jemanden anzieht, dem das Sonnenlicht nichts anhaben kann. Du, mein Liebster, bist mein Tor in die Welt.“

 

(Anathea DellEste)

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