Sophie und der königliche Besuch
„Ein Marmeladenbrot, das wär was. Nur ein Marmeladenbrot.“ Sehnsüchtig betrachtete Marion das Fotoalbum, ihre Gedanken schweiften in eine längst vergangene Welt zurück.
„Oma, Oma, bist du wach? Was ist das ein Mamelabrot da?“
„Marmeladenbrot. Marmelade ist eine Art Früchten Gelee. Damals waren Früchte nicht teuer, es gab sie in Hülle und Fülle. Man fand sie auf Torten, als Marmelade, sogar mit Eis vermischt, das nannte man einen Fruchteisbecher. Ja, das waren noch Zeiten.“
„Warum gibt es das nicht mehr?“
„Früher übernahm das Himmelsvolk die Bestäubung der Pflanzen, Früchte waren nicht selten. Geh deine Hausaufgaben schreiben, Lisa.“
Sophie nickte, enttäuscht. Sie wusste, heute würde Marion ihr nichts mehr erzählen, sie war wieder wirr. Trotzdem liebte sie ihre Oma und ihre Geschichten, die von Wäldern erfüllt von Vogelgesängen, von Wiesen mit einer Blumenpracht, die es heute nur noch auf Bildern gab, berichteten.
Am Abend traute sie sich ihrem Plüschbären an. „Wenn ich Oma nur einmal eine Freude machen könnte. Aber wie?“ Sie legte Ted an ihrem Ohr, lauschte. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Das ist es. Ich muss das Himmelsvolk finden und sie fragen, warum sie nicht mehr bestäuben. Vielleicht komme ich so an Marmelade.“
Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Ein Schwirren und Rascheln ließen Sophie aus ihrem Schlaf hochfahren. Sie richtete sich auf und rieb sich tüchtig die Augen. War sie wirklich wach? Das war beim Anblick des kleinen mit Flügeln ausgestatteten Wesen, das auf ihrem Nachttisch stand, schwer zu glauben. Sein bläuliches Licht verlieh ihm etwas Märchenhaftes und Vertrauenserweckendes. Wie unter einem Bann ergriff Sophie mit ihrem Daumen die ihr dargebotene Hand. Mit einem Mal verwandelte sich ihre Welt, ihr kleines Zimmer wirkte riesig.
„Ich bin ein Elf und wurde zu dir gesandt, um dich zur Königin zu geleiten. Nenn mich Nobero.“
„Welche Königin?“
„Die Königin des Himmelsvolks. Ich habe deine Bitte gehört. Deshalb musste ich dich zu meiner Größe schrumpfen. Kommst du mit?“
„Aber ich kann nicht fliegen.“
„In meinem Licht wirst du federleicht und schwebst neben mir. Komm, kleine Sophie.“
Beide flogen durch das offene Fenster in den sternenklaren Nachthimmel hinaus. Über grüne Wiesen, ausgedörrte Feldern, schwarze Bächen ging die Reise, bis sie eine große Lichtung erreichten. Sophie verschlug es vor Staunen die Sprache. So viele bunte Blumen kannte sie nur von Fotos und die meisten Insekten waren ihr fremd. In einem Nest, das an einem Ast hing, setze Nobero Sophie ab. Sophie erschrak bei den riesigen Stacheln der Torwächter. Aber Nobero vollführte einen kleinen Tanz und beide kamen unbehelligt hinein.
„Du musst keine Angst haben. Bienen haben Wächter, um ihr Nest zu beschützen. Sie verständigen sich über den Tanz. Die Sammlerinnen geben mit ihrem Tanz zu verstehen, wo und wieweit das Futter ist. Wir Elfen tanzen, um zu zeigen, dass wir Freunde sind.“
„Oh. Ich dachte, du würdest mich zum Himmelsvolk führen.“
„Bienen sind das Himmelsvolk. Du hast bestimmt noch nie eine gesehen.“
„Es gibt keine mehr bei uns. Deshalb geht mein Papa jeden Morgen in den Obstanbau, um zu bestäuben. Du, muss ich auch tanzen?“
„Nein.“
In der Zwischenzeit hatten sie einen großen Saal erreicht, in dessen Mitte eine weitaus größere Biene saß. Sophie blieb erschrocken stehen. Ein bisschen Angst hatte sie nun doch.
„Willkommen Sophie. Ich bin Miela, die Königin der Bienen. Wir haben deine Bitte gehört und werden dafür sorgen, dass du jeden Monat einen Marmeladentopf zur Verfügung hast. Das ist unser Geschenk an deine Oma für ihre Aussaat von Wildwiesen. Damit hat sie unsere Nahrung erhalten. Ohne diese einzelnen Eingriffe von verschiedenen Menschen wären wir längst verschwunden.“
„Oma hat versucht, euch zu helfen? Wieso solltet ihr verschwinden?“
„Weil der Mensch alles vergiftet hat, um seine Nahrung vor Schädlingen zu schützen. Er hat die Umwelt verschmutzt, Tierarten eingeschleppt, gegen dir wir ohne Verteidigung sind und noch einiges anderes. Sicher, es war nicht seine Absicht, uns zu vernichten. Aber in seiner Gier nach mehr hat er uns zerstört. Einige haben versucht, die Katastrophe abzuwenden, aber es waren zu wenige. Wir setzen nun unsere Hoffnung in die Enkel der alten Generation.“
„Warum wir? Warum habt ihr gewartet?“
„Erstens mussten wir unser eigenes Überleben sichern. Zweitens sollte diese Zeit euch eine Lehre sein. Die Entbehrung wird wohl manchen zur Vernunft bringen. Aber ihr Kinder seid nicht verantwortlich für die Fehler der alten Generation. Euch geben wir eine Chance. Kinder wie du, die versuchen, der Natur zu helfen, werden mit der Gabe versehen, mit uns Tieren zu sprechen.“
Sophie wurde es ganz Bange zumute. Viel hatte sie nicht für die Tiere getan. Etwas beschämt sah sie auf den Boden.
„Ich habe nur den Vögeln Nisthäuser hingestellt und Körner.“
„Mehr vermagst du in deinem Alter nicht zu tun. Wärst du bereit mehr zu tun?“
„Ja.“
„Gut, wir werden dich Nacht für Nacht in alles einweisen, damit du uns und unseren Freunden hilfst, zurückzukommen. Du darfst aber das Geheimnis nicht verraten.“
„Versprochen. Werden dann all die Vögel wiederkehren?“
„Mit der Zeit ja. Nobero wird dir die Marmelade besorgen.“
„Danke.“
Am nächsten Morgen aß Marion mit Genuss ihr Marmeladenbrot. Sie stellte keine Fragen, erst recht nicht, als Sophie ihr sagte, sie hätte versprochen, nicht zu verraten, woher es kam. Verschmitzt verschloss sie ihre Lippen mit den Fingern und warf den unsichtbaren Schlüssel weg. In ihren Augen lag ein geheimnisvolles Leuchten.
(Havenne Therese, Autorin aus Luxemburg)
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