· 

Juni - Juckpulver: Ein Scherz zu viel

Ein Scherz zu viel

 

„Agnes? Du hier?“ Verblüfft starrte Ina mich an. Mir klappte die Kinnlade herunter. Das durfte nicht wahr sein! Von allen Seelen, die täglich in den Himmel stiegen, musste ich ausgerechnet Ina über den Weg laufen. Hatte ich nicht genug im Leben gelitten, dass ich mit meiner ärgsten Feindin den Warteplatz teilen musste? Ich ballte die Fäuste und wandte den Kopf ab. Die Freude an meinen Tränen würde ich ihr nicht gönnen. Ina erhob sich von ihrem Baumstumpf. Ich wich zurück. Auf ein Gespräch hatte ich keinen Bock. Mit ihr schon mal gar nicht.

„Wieso bist du hier? Ich kapiere das nicht, du….“

„Was verstehst du nicht? Dass ich tot bin?“

 „Ja. Es ging dir gut…“

„Gut?“

Mir rutschte die Hand aus. Fest schlug ich ihr ins Gesicht. Meine Tränen brannten wie Feuer, die Wut ließ mich regelrecht glühen. Ina hielt sich die Wange, aber sie wehrte sich nicht. Dazu war sie wohl ohne ihre Leibgarde nicht imstande.

„Es ging mir zum Kotzen schlecht. Daran seid ihr schuld, du und deine verdammte Clique. Du Mörderin!“

„Ich habe dir doch nix getan, dass dich….“

„Ha, und das Juckpulver? Ich weiß Bescheid. Esra, der Todesengel hat mir alles erzählt.“

„Juckpulver ist nicht tödlich.“

„Woher willst du das wissen? Ich könnte allergisch sein.“

Ina trat drei Schritte zurück. Heftig schüttelte sie den Kopf. „Dieses Juckpulver ist gefahrlos. Ich habe es extra selbst hergestellt nach der Romeo und Julia Methode. Der Effekt dauert eine Stunde. Das schien mir sicherer, als es über das Netz zu bestellen. Manno, das war nur ein Scherz.“

„Dieser Scherz war mein Todesurteil. Wie oft habt ihr es mir in die Jacke gestreut?“

„Manno, jeden Tag. Das war halt lustig zu sehen, dass auch du…“

„Lustig? Ich hatte Todesangst dadurch.“

„Du verstehst echt keinen Spaß. Wie kann man sich vor Kratzen fürchten? Hey, du spinnst doch!“

„Meine Mutter ist an Hautkrebs gestorben. Es fing mit Jucken und Brennen an. Jeden Tag dieses Kratzen, ich hatte Angst, wie sie zu enden. Also habe ich den Freitod gewählt.“

Ina sackte zu Boden, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. „Warst du nicht zum Arzt?“

„Um was zu hören? Dass ich todkrank sei? Nein. Für mich waren die Symptome eindeutig. Ich wollte mir das Warten in der Furcht nicht antun.“

„Aber Agnes, du kannst mich nicht verantwortlich machen. Wenn du dich untersuchen gelassen hättest, dann…“

„Dann was? Meinst du, ich hätte es dann nicht getan? Wenn es der einzige Grund gewesen wäre, vielleicht. Aber deine täglichen Angriffe haben mich oft über Suizid grübeln lassen. Das war nur der letzte Anstoß.“

„Ich habe es doch nie böse gemeint. Echt! War nur Spaß!“

„Deine Scherze sind todernst. Warum bist du hier? Wetten, es war dir wieder ein Spaß, mit dem Leben zu spielen?“

„Ich hätte nicht ertrinken müssen, aber irgendwie bin ich in Ohnmacht gefallen. Esra war über mich gebeugt, als ich hier erwachte. Sein Blick war unheimlich, irgendwie hat er darauf gelauert. Er ist schuld, ich hatte alles im Gr…“

„Du hattest nichts im Griff, Ina“, unterbrach sie der aus dem Nichts erscheinende Esra. „Du gehst zurück. Wenn du zu dir kommst, nimm die Hürden in die Hand. Du alleine bist dafür verantwortlich. Steh gerade für deine Fehler, sieh deine Verantwortung ein. Du kannst dich noch wandeln.“

Sie strahlte. Mich würdigte sie keines Blickes. 

„Freu dich nicht zu früh, du wirst Verantwortung lernen.“

„Ach, so schlimm wird es nicht sein. Mein Vater ist locker.“

„Wenn du Hilfe bedarfst, ich bin ganz nah. Agnes, nun zu uns. Du kommst mit mir.“ Er nahm mich bei der Hand und löste sich mit mir auf.

„Was ist mit Ina?“

„Sie ist gelähmt. Sie hat sich beim Sprung in das seichte Wasser den Kopf angeschlagen. Fortan wird sie spüren, was es bedeutet, anders zu sein und dieses Los hat sie selbst gezogen. Es ist keine Strafe, es ist schlicht ihr Leichtsinn, der dazu geführt hat.“

„Was wird aus mir?“

„Du hast eine Entscheidung getroffen, alleine. Auch wenn der Scherz dich beängstigt hat, kannst du Ina nicht für deinen Suizid verurteilen. Damit konnte sie nicht rechnen. Was sie hätte bedenken müssen, war wie verletzend ihr täglicher Spott war.“

„Aber es war nicht nur das Pulver. Es war auch die ewige Anfeindung.“

Er legt mir den Finger auf die Lippen.

„Das Ganze werden wir bereden. Bedenke, du kannst Inas Handeln verurteilen, aber nicht sie als Person. Du nanntest sie Mörderin. Doch wie groß ist ihre Schuld an deiner Entscheidung?“

Ich schloss die Augen. Esras Worte trafen mich tief. Dieser Spaß war zu teuer, ich war tot und sie gelähmt. Nichts Gutes war daraus entstanden. Mein Groll ihr gegenüber verpuffte. Ich hatte sie verurteilt, so wie sie mich. Auch mir standen Hürden bevor. Etwas musste ich tun. Irgendwo musste dieser Hass enden.

„Kann ich ihr beistehen, sie lenken, dass sie die Kurve kriegt?“

Esra sah mich eine Weile an und nickte.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0