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Monatsgeschichte Juni: Erdbeermond

Erdbeermond

 

Die Wanderung über die Berge war eine einzige Katastrophe für Dinka. Die Strapazen an sich waren schlimm genug, doch hoch oben auf dem Pass machte ihr die dünne Luft so sehr zu schaffen, dass sie von Norgon getragen werden musste. Obwohl ihr sterbensübel war, nahm sie es nicht gut auf, dass ausgerechnet Gronte, dieser Stadtmensch ohne Ausdauer, keine Schwierigkeiten zu haben schien, mit den anderen Schritt zu halten. Irgendwann ging es auch wieder bergab und sie konnte sich auf ihren eigenen Beinen fortbewegen, doch der Weg blieb eine Tortur.

 

Die meisten der verwinkelten, steilen Wege hätte wohl keiner der Gruppe ohne die Hilfe des Sternen-Elbs gefunden. Immer, wenn es schien, als wäre ein Weiterkommen schlichtweg unmöglich, setzte er sich an die Spitze und fand den verborgenen Pfad. Es ging immer weiter bergab, bis sie in eine dicke Nebelwand eintauchten. Die eiskalte Nässe schien in jede Pore einzudringen, und nach einer Weile hatte Dinka das Gefühl, dass sie in einer anderen Welt gelandet waren. Vielleicht würden sie für den Rest ihrer  Tage in dieser klammen Trübnis umherirren, und erst viele Jahrzehnte später fände ein erschrockener Pilzsammler die traurigen Reste ihrer Gebeine

»Jetzt träum nicht«, murrte Jiris und verpasste ihr einen Stoß, der sie vorwärts stolpern ließ - mitten hinein in wärmende Sonnenstrahlen und einen perfekten Sommertag.

Mit tiefen Zügen sog Dinka die frische Luft ein, die den würzigen Geruch von frischem Heu und reifen Früchten mit sich trug. Sie ließ ihren Blick über die weite Fläche schweifen, die sich vor ihr auftat. Saftige Weiden und fruchtbare Felder umrahmten einen kleinen Ort, der hier am Ende der Welt zu liegen schien. Rasch bückte sie sich hinab zu den wilden Erdbeeren, die nach diesem anstrengenden Marsch eine willkommene Belohnung darstellten. Sie sah das leichte Lächeln, das den Mund des Elben umspielte, und erwiderte es schwach. Ja, dieses Mal wusste selbst sie, dass es die Zeit des Erdbeermondes, die Zeit des Überflusses, war. Sie ließ ihren Blick weiter umherschweifen, während sie genüsslich die süßen Beeren verspeiste. Im Osten ragten die steilen Berge empor, durch die sie sich mühsam ihren Weg gebahnt hatten. Nach Süden hin blieb das Land offen, doch im Norden und Westen wurden die etwa dreißig Häuser von dichtem Wald umschlossen. Obwohl ausreichend Land vorhanden war, lagen die Gebäude dicht beieinander, als suchten sie Schutz vor der Einsamkeit dieser weiten Landschaft. Von der Anhöhe aus konnte Dinka erkennen, dass es nur ein Haus gab, das abseits der anderen stand, mindestens zwei Meilen weiter nordwestlich, ganz in der Nähe des Waldrandes.

 

Es traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, als sie begriff, worauf sie da starrte. Sie war wieder daheim. Ungläubig drehte sie sich um, starrte auf den Spalt in den Felsen, durch den sie gekommen waren. Die Klamm der Verzweiflung! Ihr wurde kurz schwindelig vor Entsetzen, denn dieser Ort galt als absolutes Tabu. Man ging nur dorthin, um den Tod zu suchen und zu finden. Niemals wäre jemand in ganz Wittamal auf den Gedanken gekommen, dass sich dahinter ein Weg in andere Länder verbergen könnte.

Aufgewühlt drehte Dinka sich wieder nach vorn, nur um festzustellen, dass ihre Gefährten sich bereits auf den Weg ins Dorf gemacht hatten. Während sie ihnen nacheilte, versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren. Wie konnte sie den Männern gegenübertreten, die ihrer Mutter immer wieder Zwang angetan hatten? Und ihre Mutter – wie sollte sie ihr erklären, dass sie es nie bis zur Tante geschafft hatte, sondern nun Teil einer seltsamen Gruppe geworden war, die gegen so etwas wie weibliche Dämonen kämpfte? Sie wäre in Gedanken vertieft allein weitergelaufen, wenn Rune sie nicht unsanft am Arm zurückgehalten hätte. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Gefährten angehalten hatten, um den Männern entgegenzusehen, die vom Ort her auf sie zukamen. 

Dinka kannte sie alle, war unter ihnen aufgewachsen, und doch kamen sie ihr unendlich fremd vor: Kaech, der Schmied, Lunk, der Wohlhabendste der Bauern, und natürlich Prett, der Lehrer und Chronist des Ortes. Schnell tat sie es dem Sternen-Elb gleich und zog sich trotz wärmender Sonnenstrahlen die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf, doch es war bereits zu spät.

„Dinka! Du lebst! Dann hatte deine Mutter Recht damit, dass du zurückkehren würdest.“ So freudig, so herzlich war der Tonfall von Prett, dass sie unwillkürlich auf ihn zugehen wollte, doch Runes harter Griff hielt sie zurück. Das bemerkten die Dörfler allerdings, und ihre Gesichter wurden grimmig. Kaech tätschelte bereits mit finsterer Miene seine wuchtige Axt, doch Dinka wollte es auf keinen Fall zu einem Kampf zwischen diesen so ungleichen Gruppen kommen lassen.

„Es ist alles in Ordnung, Meister Schmied. Das sind Freunde von mir, und wir wollen nur schnell bei meiner Mutter vorbeischauen, bevor wir weiterziehen.“

„Dann weißt du es noch nicht?“ Bauer Lunk schaute betreten drein.

Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch Rune hatte sofort verstanden. „Sagt, dieses einzelne Haus dort am Waldesrand, was ist damit geschehen?“

Dinka folgte seinem Blick und schnappte entsetzt nach Luft, als sie erkannte, wovon er sprach. Ihr einst gemütliches Zuhause war nur noch ein Gerippe aus geschwärzten Balken; ein Feuer hatte es komplett zerstört.

„Was habt ihr getan?“, fuhr sie die überraschten Dörfler an. „Seid ihr wirklich so weit gegangen, eure Heilerin anzuzünden?“

„Bist du denn komplett von Sinnen?“ Der alte Lunk schnaubte empört. „Hätten wir gewusst, was dieses Weib mit ihr vorhatte, hätten wir es doch gar nicht ins Dorf gelassen.“

„Was für ein Weib?“, hakte Rune interessiert nach und hielt Dinka weiter eisern fest, damit sie sich nicht auf das Trio stürzen konnte.

„Eine furchtbare Frau“, mischte sich der Schmied mit seiner heiseren Stimme ein. „Kaltes Gesicht, schwarze Augen voller Gift.“ Er spuckte aus und verzog das Gesicht. „Und dieses Pferd.“ Es schüttelte ihn bei der Erinnerung. „Wenn es denn überhaupt ein Pferd war. Schwarz wie die tiefste Finsternis. Mit blutroten Augen und Nüstern, die in Flammen zu stehen schienen.“

„Eine Roya auf ihrem Salvayan“, flüsterte Gronte gebannt, ohne sich um die warnenden Blicke der Gefährten zu kümmern.

Obwohl ihr die Gesichter der Dörfler bereits verrieten, dass sie die Antwort gar nicht wissen wollte, stellte Dinka die Frage, die ihr auf der Seele brannte, doch: „Wo ist meine Mutter?“

„Ach, liebes Kind!“ Die Stimme des Lehrers bebte. „Diese schwarzäugige Hexe ritt direkt zum Haus deiner Mutter, wo diese sie schon zu erwarten schien.“ Er machte eine Pause, strich sich über das Haar, als wollte er das Weitersprechen vermeiden. Doch er gab sich einen Ruck und fuhr fort: „Aus der Entfernung sah es so aus, als würden sie sich nur gegenüberstehen und sich anstarren, bis auf einmal, aus heiterem Himmel, diese riesige Flamme in den Himmel schoss.“ Die beiden anderen Augenzeugen nickten mit versteinerten Mienen. »Das Feuer war so grell, dass man keine Einzelheiten sehen konnte, aber wir haben gesehen, wie die schwarze Hexe auf ihrem Dämonenpferd davonjagte.“ Er deutete in die Richtung des Waldes. In jene Richtung, in die Dinka vor einigen Monaten selbst aufgebrochen war.

„Deine Mutter war eine Roya!“

Hätte Rune sie nicht immer noch am Arm festgehalten, wäre Dinka auf den erschrockenen Gronte losgegangen. „Bist du verrückt? Hast du nicht zugehört? Eine Roya ist gekommen, um sie zu töten. Sie selbst...“ Sie brach ab, versuchte mit aller Macht, den Gedanken zu unterdrücken, der sich in ihr formte. Sie selbst ist die abtrünnige Roya gewesen, nach der wir hier suchen wollten! Diese unmögliche Vorstellung nach all den körperlichen Strapazen forderte ihren Tribut. Geradezu dankbar hieß Dinka die Dunkelheit der Ohnmacht willkommen.

 

(Anathea DellEste)

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