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Monatsgeschichte Juli: Bärenmond

Bärenmond

»Wenn du nicht aufhörst, mich ständig anzuglotzen, haue ich dir eins mitten zwischen die Augen«, fauchte Dinka den verblüfften Gronte an. Zu Anfang der Reise hätte sie sich von seinem Interesse geschmeichelt gefühlt, doch nun wollte sie ihre Ruhe haben. Schlimm genug, dass sie von allen angesehen wurde, als wären ihr über Nacht drei Natternköpfe gewachsen, da wollte sie nicht auch noch Studienobjekt eines ehrgeizigen Chronisten werden.
»Du bist nun einmal, was du bist - nämlich die Tochter einer waschechten Roya. Und sie hat dir ihr Vermächtnis hinterlassen, ihr Dwyndirlok.«
Dinka sah wieder auf ihre Hände hinab, die das«heilige Kästchen«, wie Gronte es genannt hatte, fest im Griff hielten. Sie hatte es noch keine Sekunde aus der Hand gegeben, seit der alte Lunk es ihr zusammen mit einem versiegelten Brief ihrer Mutter überreicht hatte. Der Inhalt der Zeilen war ein Schock für Dinka gewesen, denn alles, was ihre Mutter ihr erzählt hatte, um sie zum Gehen zu zwingen, war eine Lüge gewesen. Sie selbst hatte die Männer des Dorfes an jenem Abend zu sich gebeten, keine Rede also von Übergriffen und demütiger Duldung. Dinka wusste nicht mehr, wer diese Frau gewesen war, die sie zu kennen geglaubt hatte.
»Eine furchtbare Vorstellung, dass sich all ihr Wissen in diesem Kästchen befindet, und doch niemals von jemand anderen genutzt werden kann.« Geradezu gierig starrte der Chronist den Gegenstand in ihren Händen an. »Ich kenne Leute, die würden dir ihr Königreich dafür geben.«
»Na, dann wollen wir mal hoffen, dass dich das nicht auf komische Gedanken bringt, was?« Jiris schaute den jungen Schreiber finster an. »Ist mir ein bisschen viel, was du da so alles über die verdammten Royas weißt. Wie kommt's, dass sich so ein grünes Bürschlein wie du damit auskennt? Glaub kaum, dass sich viele von den Hexen in eine Schreibstube verirren.«
Gronte schnaubte verächtlich. »Was weiß denn ausgerechnet ein Gaukler vom Schreiben und dem Sammeln wichtiger Informationen?«
»Und was passiert, wenn es doch jemand öffnen könnte?«, unterbrach Dinka den aufkeimenden Streit zwischen den beiden. Sie blickte dabei hinüber zu Sree-Balan, der wie immer ein Stückchen entfernt vom Lagerfeuer Platz genommen hatte. »Könnte dieses Wissen den Sternen-Elben in ihrem Kampf gegen die Royas helfen?«
Während der Elb über ihre Worte nachsann, konnte Gronte sich nicht mehr zurückhalten. »Das ist doch völliger Unfug. So weit würde eine Roya niemals einem anderen Menschen vertrauen.«
»Außer vielleicht der eigenen Tochter?«
Er weiß es! Verdammt, warum muss dieser bleiche Elb immer alles wissen. Oder stellt er mich nur auf die Probe? Dinka versuchte, möglichst unschuldig dreinzuschauen, doch alle hatten ihre Blicke bereits auf sie gerichtet.
»Du kannst es?« Grontes Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Dass sie nicht antwortete, wertete er als ein klares Ja. »Was hat sie dir noch beigebracht? Was kannst du?«
 »Und vor allem, was bist du?«, mischte sich nun auch Jiris ein. Das Misstrauen in seinen Augen schmerzte Dinka, und sie wandte sich Rat suchend an Rune, der sie ebenfalls sehr nachdenklich musterte.
»Du bist auf jeden Fall nicht die, die du zu sein glaubtest, nicht wahr?« Er wechselte einen kurzen Blick mit dem Elben, bevor er fortfuhr: »Da du selbst nicht beurteilen kannst, welche Roya-Kenntnisse du beherrscht, ist es wohl das Beste, dich nach Stellanar zu bringen, zum Zirkel der Rayons.«
Augenblicklich ließ die Anspannung unter den Gefährten nach. Rune und Sree-Balan steckten die Köpfe zusammen, um sich zu beratschlagen; Jiris und die beiden Krieger begannen, das Feuer zu versorgen und sich um die abendliche Verpflegung zu kümmern. Einzig Gronte stand mit verkniffenem Mund abseits, und schien Schwierigkeiten mit dieser Entscheidung zu haben. Dinka hingegen hatte das Gefühl, wieder einmal die einzige zu sein, die nicht wusste, worum es überhaupt ging.

Erneut folgten sie kaum sichtbaren Wegen, und mehr als je zuvor hegte Dinka den Verdacht, dass der Sternen-Elb heimlich irgendeinen Zauber anwandte, um sie schneller vorankommen zu lassen. Sie wusste von einer alten Karte, die sie bei dem Dorflehrer bewundert hatte, dass der Wald viel zu riesig war, um ihn zu Fuß in nur drei Tagen zu durchqueren. Auch die Grassteppe und die Sumpflandschaft ließen sie im Nu und ohne große Anstrengung hinter sich, aber keiner der anderen schien sich darüber Gedanken zu machen. Doch sie stellte keine Fragen, denn die Angst, dass vielleicht nur etwas mit ihrer eigenen Wahrnehmung nicht stimmte, war zu groß. So folgte sie den anderen, blieb aber für sich und redete nur wenig. Auch die anderen schienen nicht das Bedürfnis zu haben, mit dem Spross einer Roya zu sprechen, was sie noch stiller werden ließ.
Eines Tages gesellte sich Sree-Balan an ihre Seite, doch bevor sie ihn nach dem Grund fragen konnte, stoppte er sie mit einer Geste und deutete nach vorn. Ein breiter Fluss querte ihren Weg und an seinen Ufern schienen große, weiße Tiere Wache zu stehen. Nicht weit von ihnen entfernt stieg einer dieser zotteligen Riesen aus dem eiskalten Wasser, um sich ausgiebig zu schütteln, so dass Tropfen wie glitzernde Kristalle durch die Luft geschleudert wurden.
Dinka starrte das gewaltige Tier an. „So einen Bären habe ich noch nie gesehen. Ist das ein Geist?“
Sree-Balan lachte leise, was den Bären dazu brachte, den mächtigen Kopf in ihre Richtung zu drehen. „Nein, Geister gibt es hier nicht. Die weißen Bären bewachen die Grenzen unseres Landes. Niemand betritt die Gefilde der Sternen-Elben ohne ihre Einwilligung. Heute Nacht werden wir keine zusätzlichen Wachen brauchen.“

Zwei Stunden später tapste Dinka schlaftrunken hinter einem aufgeregten Gronte hinterher. »Wieso sollen wir uns jetzt auf einmal im Wald treffen?«, maulte sie schlecht gelaunt. Seit sie Wittamal verlassen hatten, war ihr Schlaf zum ersten Mal tief und erholsam gewesen. »Wir sollten uns doch erst wieder nach Sonnenaufgang auf den Weg machen.« Sie blieb stehen und schaute sich mit gerunzelter Stirn auf der winzigen Lichtung um. »Und wo sind die anderen?«
»Inzwischen weit entfernt, denn der hochnäsige Ausgebleichte ist etwas nachlässig mit dem Verwischen der Sprungpunkte«, höhnte ihr Begleiter.
»Ich verstehe kein Wort. Was ...«
»Natürlich nicht«, wurde Dinka sofort wieder das Wort abgeschnitten. »Ich habe genau gesehen, wie du jedes Mal die Stirn gerunzelt hast, wenn er seine Magie angewandt hat, um uns im Raum zu versetzen.«  Gronte stoppte seinen Redefluss, als er ihre verwirrte Miene sah, und schüttelte den Kopf. »Ich fasse es nicht. Sie hat dich tatsächlich nicht in ihren Künsten ausgebildet, oder? Ansonsten müsstest du die Magie der Sternen-Elben besser wittern können als jede andere.« Er seufzte, breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst. »Jetzt bist du weit von deinen neuen Freunden entfernt und somit in meiner Gewalt.«
Dinka verstand immer noch nicht, wovon Gronte sprach, und so langsam fing er an, ihr auf die Nerven zu gehen. »Dir ist die lange Reise wirklich nicht bekommen, oder? Mach, was du willst, aber ich gehe wieder zu den anderen zurück.«
»Wohl kaum, es sei denn, du kannst fliegen.« Gronte lachte dreckig über ihren verblüfften Gesichtsausdruck. »Du wurdest entführt, Kleine. Auf magische Art und Weise, ohne dass es irgendjemand bemerkt hat.« Mit beiden Armen machte er eine ausladende Geste, forderte sie spöttisch dazu auf, sich umzusehen. »Oder kennst du dich etwa in dieser Gegend aus?«
Dinka lief ein Schauer über den Rücken, als sie die verkrüppelten Nadelbäume um sich herum genauer betrachtete. Sie waren über und über mit grauem Moos bewachsen, aus dem Wasser auf den Waldboden tropfte. Bei dem Anblick musste sie an den alten Virk denken, dem der forsche Aderlass eines wandernden Quacksalbers beinahe das Leben gekostet hätte. Vielleicht ging es den Bäumen ebenso?
»Aber die Wächter«, stammelte sie verwirrt. »Wieso haben sie nichts bemerkt?«
»Oh, der neunmalkluge Elb ist gar nicht so furchtbar schlau, wie er immer tut. Ein bisschen weiß der Rest der Welt schon über die Sternen-Elben und ihre Gepflogenheiten. Er hat uns ausgerechnet in der Zeit des Bärenmondes zur Grenze gebracht, wie nachlässig.« Ein hämisches Kichern unterstrich die gehässigen Worte. »Die Wächter sind in ihrer Bärengestalt gefangen und können ihre anderen Fähigkeiten nicht einsetzen. Bis dieser Bann nachlässt, sind wir längst verschwunden.«
Entsetzt starrte sie den jungen Chronisten an, der immer noch genauso dürr und knochig war wie bei ihrem allerersten Aufeinandertreffen. Doch dieser Gesichtsausdruck voller Bosheit passte absolut nicht zu dem Gronte, den sie kennengelernt hatte. War es möglich, sich innerhalb weniger Monate dermaßen zu verändern? Bevor sie sich zurückhalten konnte, war die Frage schon heraus. „Wer bist du?“
„Ah, nun kommen wir der Sache doch schon näher, meine Kleine.“ Gronte oder derjenige, der vorgab, Gronte zu sein, bleckte die Zähne. »Ich bin dein schlimmster Alptraum. Deiner Mutter ist es zwar gelungen, uns für immer zu entkommen, bevor wir Rache für ihren Verrat nehmen konnten. Doch du…“, er richtete den Zeigefinger wie eine Waffe auf sie. „Du wirst uns mit deinen Schreien entschädigen, und die Royas werden sich an deinen Qualen ergötzen.“ Seine Augäpfel rollten nach hinten, bis Dinka nur noch das Weiße sehen konnte. Als sie wieder zurückrollten, war das vertraute, freundliche Braun verschwunden. Eine Schwärze wie geschmolzenes Pech hatte es verschluckt, und zum ersten Mal in ihrem Leben blickte Dinka einer leibhaftigen Roya in die Augen.

 

  (Anathea DellEste)

 

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