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August - Alabasterfigur: Wahrer Mut

Wahrer Mut

 

„Wird ja immer schlimmer! Hast du das gelesen? Unbekannter stiehlt weiße Engelsfigur vom Grab eines Kindes. Wie kann man nur?“ Empört legte Vater das Handy nieder, während Mutter ihm Kaffee einschenkte.

„Ich habe davon gehört. Die Eltern haben einen Aufruf zur Wiedergabe dieser Alabasterfigur aufgegeben. Nachdem, was ich gehört habe, soll sie nicht besonders wertvoll gewesen sein. Wer tut denn sowas?“

„Bestimmt jemand, der es teuer auf Ebay veräußern will. Und sowas in unserem ruhigen Dorf. Früher gab es das nicht, da wussten die Leute die Tote zu respektieren.“

Ich versank in die Lektüre der napoleonischen Kriege. Das war besser. Denn der Täter saß vor meinen aufgebrachten Eltern. Aber was hätte ich machen sollen? Jeden Tag mit Bauchschmerzen zur Schule gehen? Nein danke. Heute Nacht wollte ich sie zurückbringen.

 

„Super Bild, Marina“, empfing mich Thomas, „Du hast echt keinen Schiss bei Nacht auf dem Friedhof. Aber um wirklich Ruhe zu haben, musst du noch eine Probe bestehen.“

„Was? Ihr hattet versprochen, dass ich…“

 Eine Wand bildend umzingelte mich der Rest der Gruppe. Ich war geliefert. Bebend, den Blick auf meine Schuhe gesenkt, wartete ich auf das Urteil. Was hatte Thomas ausgeheckt?

„Du wirst uns morgen Nacht zum Kiosk begleiten. Hinten ist ein schmales Fenster, durch das nur eine Bohnenstange hindurchpasst. Du steigst ein, schaltest den Alarm aus. Keine Sorge, ich kenne die Kombination durch meinen Sommerjob, hab´s mir gemerkt. Du öffnest uns von innen.“

„Stehlen? Das kann ich….“

Thomas lächelte böse und zeigte mir das Display seines Handys. Mir blieb das Herz stehen. Dort lief das Video, das ich von mir beim Entwenden der Alabasterfigur gedreht hatte.

„Möchtest du auffliegen? Du kannst nicht beweisen, dass wir dich gezwungen haben.“

Wie blöd von mir. Hatte ich wirklich geglaubt, sie wollten mich in Frieden lassen? In Wahrheit ging es um meine Wespentaille. Deshalb hatte die Bande darauf bestanden, mich beim Klauen zu filmen. Sie wollten gar nicht vermeiden, dass ich mir eine x-beliebige Figur kaufte und sie als Beweis präsentierte. Und nun? Ich hörte mich zustimmen.

 

Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her, immer wieder starrte ich auf die Figur. „Was jetzt, kleiner Engel? Ich wollte dich echt nicht stehlen. Ich wollte …“

„In Ruhe gelassen werden?“

Ich wirbelte herum und erstarrte. Träumte oder wachte ich? Wie ging denn das? Ungläubig rieb ich mir die Augen, aber der Engel verschwand nicht. Im Gegenteil. Er setzte sich neben mich aufs Bett. Ich schluckte und nickte.

„Ich bin der Beschützer der kleinen Angelina gewesen. Was denkst du jetzt zu tun?“

„Weiß ich nicht. Wenn ich nicht mitmache, dann….“

„Dann was? Denk gründlich nach.“

„Dann wird das Video gesendet.“

„Ist das schlimm?“

„Meine Eltern werden toben, und ich habe ne Anzeige am Hals.“

„Und wenn du morgen erwischt wirst? Oder schlimmer - wenn es morgen nur der Auftakt zu anderen Straftaten ist? Wer sich einmal erpressen lässt, gerät in einen Sog.“

Entsetzt sah ich ihn an. Daran hatte ich nicht gedacht.  „Aber wenn ich rede, dann machen sie mich fertig.“

„Dich zu Straftaten zwingen rechne ich als fertig machen an. Du wirst keine Nacht wegen deinem schlechten Gewissen schlafen können. Rede, das ist der einzige Weg. Sicher bekommst du etwas Ärger, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was die Bande erwartet. Bring die Figur morgen zur Polizei und berichte von dem Plan. Du wirst schon sehen, es kommt anders, als du denkst.“

Mit diesen Worten verschwand er, zurück blieb mein Handy. Mein Blick blieb auf den angeklickten Lokalnachrichten haften. Hatte der Engel mir diese Botschaft zukommen lassen? Höchstwahrscheinlich. Ich müsste mal echt mehr Zeitung lesen. Nun wusste ich, was zu tun war.

 

Drei Tage später stand ich mit einem Entschuldigungsbrief vor den Eltern der kleinen Angelina. Mehr hatte der Richter nicht verlangt. Meine Eltern hatten nicht geschimpft, denn ich hatte mich selbst angezeigt. Das hatte ihnen imponiert. Dafür stand die Bande für diverse Einbrüche unter Jugendarrest. Ich hatte mitgemacht, aber mit der Polizei als Deckung.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

 

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