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August - Alabasterfigur: Schräges Erbe

Schräges Erbe

Marie fuhr erschrocken hoch, als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. So wütend war ihr Mann sonst nur nach einem der unzähligen handfesten Streits mit seinem Vater nach Hause gekommen. Doch dieser war vor zwei Wochen verstorben, und bei anderen Leute reagierte Stefan normalerweise selbst auf Anfeindungen recht besonnen.
„Was ist denn los?“, fragte sie daher besorgt, als ihr Mann ins Wohnzimmer trat und das Jackett mit Schwung auf seinen Lieblingssessel schleuderte.
„Was soll schon los sein?“, knurrte dieser, zerrte sich die Krawatte vom Hals und warf sie der Anzugjacke hinterher. „Der Alte ist unglaublich! Er hat’s wirklich so gemeint, wie er es andauernd gesagt hat. Erinnerst du dich? Dieses ständige ‚Du wirst immer unter meinem strengen Blick arbeiten müssen‘?“
Marie eilte in die Küche, um Teewasser aufzusetzen und kehrte mit einem angefeuchteten Tuch zurück, das sie ihrem Mann liebevoll um den Nacken legte. Der beruhigende Duft von Minze und Lavendel wirkte sofort. Mit einem zufriedenen Lächeln registrierte sie, dass sich die Zornesfalten glätteten und sein Atem friedlicher wurde.
»Also, was ist passiert? Wie sollte dein Vater dich immer noch beobachten können? Er hat dich als Erben eingesetzt. Es gibt keinerlei Treuhänder, Anwalt oder irgendjemanden, der dir etwas zu sagen hätte.« Sie machte eine kurze Pause. »Das Testament?«
»Was sonst?«, lautete die knurrige Antwort.
»Aber der Notar hatte doch gesagt, dass alles zu deinen Gunsten geregelt wurde. Wo ist denn da der Haken? Moment!« Sie eilte erneut in die Küche, um den Tee für ihr allabendliches Ritual aufzugießen. Eine Gewohnheit, die sie sich während ihrer Zeit in Japan zugelegt hatten, und die ihrem Schwiegervater immer ein Dorn im Auge gewesen war. »Ein echter Mann trinkt Kaffee, bitter und schwarz wie die Nacht, und nichts, das nach altem Heu schmeckt!«
Als sie zurückkam, hatte Stefan bereits die Verandatür geöffnet und die Gartenmöbel zurechtgerückt. Nachdem sie die ersten Schlucke in Ruhe und Achtsamkeit genossen hatten, sprach er das Thema von selbst wieder an.
»Ich hatte wirklich schon fast meinen Frieden mit ihm gemacht, als heute Morgen die gute Frau Karpf ganz aufgelöst ins Büro gestürmt kam. Du weißt ja, wie korrekt sie sonst immer ist, und deshalb war ich bereits vorgewarnt, als sie, ohne anzuklopfen, hereinkam. Dass aber gleich eine komplette Mannschaft von Handwerkern hinterher getrampelt kommt...«
Marie runzelte die Stirn. »Wieso denn das? Hatte dein Vater die Büros nicht gerade erst alle renovieren lassen?« Sie riss die Augen auf. »Sag bloß nicht, dass es um Pfusch am Bau geht?«
Doch ihr Mann winkte beruhigend ab. »Nein, damit ist alles in Ordnung. Diese Typen waren auf einer ganz anderen Mission. Bevor ich auch nur nachfragen konnte, was zum Henker sie in meinem Büro zu suchen hätten, schleppten sie schon die Statue herein.«
»Hä?«
Stefan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ja, ich muss ähnlich fassungslos aus der Wäsche geguckt haben, aber es ist wahr. Der Alte hat eine Büste von sich in Auftrag gegeben, und nun steht mir diese Alabasterfigur genau gegenüber, um mich den lieben, langen Tag anzustarren.«
Marie konnte nicht anders - sie lachte, bis ihr die Tränen kamen, und jedes Mal, wenn ihr Blick auf das angesäuerte Gesicht ihres Mannes fiel, ging das Gelächter erneut los.
»Danke für dein Mitgefühl, Herzchen. Das weiß ich echt zu schätzen.«
»Ach, Stefan.« Sie wischte die letzten Lachtränen fort und gab ihm einen Stups. »Komm schon, du musst zugeben, dass das eins seiner Glanzstücke ist. Was muss er sich heimlich ins Fäustchen gekichert haben.«
»Ja, ich bin begeistert. Besonders von dem klitzekleinen Zusatz im Testament. Erinnerst du dich daran?«
»Natürlich, aber der Notar sagte doch, dass es kaum von Belang sei?«
Sie bekam ein verdrossenes Schnaufen zur Antwort. »Nicht, wenn man sich mit dem Gedanken anfreunden kann, sein Leben lang unter den Augen des bereits verstorbenen Vaters zu arbeiten. Sobald ich die Statue entferne, sie umdrehe oder den Schreibtisch an eine andere Stelle rücken lasse, bin ich enterbt und erhalte lediglich den Pflichtanteil.«
»Blödsinn«, empörte sich Marie. »Das würde er doch niemals machen. Die Firma war sein Lebenswerk, und natürlich wollte er immer, dass du sie weiterführst.«
»Aber wohl nur, wenn es zu seinen despotischen Bedingungen geschieht.«
Für eine Weile versanken beide in Gedanken und tranken ihren Tee im Schweigen. Dann griff Marie nach Stefans Hand und drückte sie. „Denke schräg, Liebling«, sagte sie. »Trickse ihn aus.“
»Hm.«
Sie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, und natürlich würde er eine zufriedenstellende Lösung finden - das tat er immer, und unter anderem liebte sie ihn auch dafür.

Schon am nächsten Abend konnte sie bei seiner Heimkehr an den beflügelten Schritten und dem leisen Pfeifen erkennen, dass er die Angelegenheit angemessen gelöst haben musste. Neugierig eilte sie ihm entgegen. »Und? Was hast du getan?«
Mit einem breiten Grinsen zog er sie in seine Arme. »Ich bin der liebende Sohn, der nun endlich verstanden hat, wie sehr es sein alter Herr verdient hat, gewürdigt zu werden.« Er machte eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen, sprach aber schnell weiter, als sie ihn strafend ansah. »Die Büste bleibt auf ihrem angedachten Platz, der Schreibtisch ebenso, aber man wird noch zusätzliche Gegenstände aus dem Lebens meines Vaters in diesem Raum unterbringen. Es wird sozusagen ein Gedenkraum, eine Art Mini-Museum für ihn.« Er warf ihr einen übertrieben unschuldigen Blick zu. »Man würde ihn ja quasi entweihen, wenn jemand tagtäglich ganz profan darin arbeiten würde- also habe ich das Büro daneben bezogen.«
»Ich wusste doch, dass dir etwas einfallen wird. Was hältst du davon, wenn wir diesen kleinen, aber historischen Sieg feiern gehen? Wie wär‹s mit einer Portion Sushi?«
»Mit viel Tee und dazu ein wenig Sake?«
Sie nickte. »Ja, genehmigen wir uns all das dekadent widerliche Japan-Zeugs, dass er so verabscheut hat.«
»Nichts wie los!« Lachend zog er sie mit sich. »Und morgen kannst du dir unseren neuen Museumsraum ansehen.«

 

  (Anathea Minami)

 

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