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Monatsgeschichte August: Roter Mond

Roter Mond

Dinka hatte in den letzten Monaten so einige Strapazen hinter sich gebracht, doch die einsame Wanderung mit der sonderbaren Roya stellte alles andere in den Schatten. Die Pausen waren viel zu kurz, Mahlzeiten gab es keine und Wasser nur in winzigen Mengen, die gerade ausreichten, sie nicht verdursten zu lassen. »Warum bringst du mich nicht gleich um?«, hatte sie ihre gnadenlose Antreiberin gefragt, doch nur ein höhnisches Gelächter als Antwort erhalten. Dinka lernte, mit ihren Kräften schonend umzugehen - ein gleichmäßiger Gang, mit möglichst wenig Stopps oder Beschleunigungen. Ruhiges Atmen mit geschlossenem Mund, kein unnötiges Reden; einfach nur gehen. Zu ihrer Verwunderung schienen ihr der strenge Marsch und das auferzwungene Fasten bald nichts mehr anhaben zu können. Sie hatte sogar wieder ausreichend Kraft, um über ihre Lage nachzudenken.
Natürlich kann sie mich nicht umbringen, sinnierte sie still vor sich hin. Sie will den Inhalt des Kästchens, und zwar um jeden Preis. Aber warum foltert sie mich nicht? Oder setzt jene Magie ein, über die die Roya ja angeblich verfügen sollen? Das Grübeln half ihr dabei, ihre Gedanken zu sortieren. Und plötzlich kamen ihr Dinge in den Sinn, an die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte...

Nein, mein Schatz, wenn du die Kräuter nicht so aufhängst, dass der Mond sie bei Nacht mit seinen silbernen Strahlen berühren kann, dann kannst du dir die Mühe sparen.
Aber warum ist das so?
Weil der Mond viele magische Fähigkeiten verstärken kann. Wichtig ist nur, dass du lernst, wann die richtige Zeit gekommen ist, die es für deine Zwecke zu nutzen gilt. Heute brauchen wir die Heilkraft des Mondes, also mach schon. Binde die Kräuter an die Südseite des Hauses.
Ist gut, Mutter.

Siehst du den Mond, mein Kind? Kannst du mir sagen, was er bedeutet?
Es ist der Rote Mond. Er warnt uns.
Dann ist er ein schlechtes Omen?
Nein, nur eine Warnung, genau nachzudenken und abzuwägen. Es ist der Blutmond, der Unheil bringt.
Sehr gut, aber woran erkennst du den Unterschied? Sind nicht beide Monde rot?
Ja, aber noch haben wir Sommer. Der Mond, der uns Gefahr ankündigt, zeigt sich erst im Herbst.
In jedem Herbst?
Aber nein, sonst wäre das ja immer eine Unglückszeit! Manchmal wird der Blutmond für Jahrzehnte nicht gesehen, und manchmal erscheint er gleich in mehreren Jahren hintereinander. Er könnte uns ja nicht warnen, wenn er regelmäßig aufgehen würde.
Das stimmt. Dann lass uns darauf hoffen, dass wir ihn auch in diesem Jahr nicht zu sehen bekommen.

Stell dich dort hin, genau in die Mitte zwischen den beiden Steinen. Gut, und nun schließe die Augen. Lausche in dich hinein. Spüre die Welt um dich herum. Kannst du etwas Besonderes fühlen?
Nein.
Versuche es weiter. Suche nicht danach, lass es von allein zu dir kommen.
Hm, irgendetwas ist anders als die Dinge drumherum.
Wie fühlt es sich an?
Kitzelig.
Kitzelig?
Ja, es kribbelt und sprudelt. Es ist so lebendig. Es ist ein Gefühl wie junge Füchse, die spielen und hüpfen. Ich kann es nicht anders beschreiben.
Das macht nichts. Merke dir gut, was du da spürst, denn das ist pure Magie. An dieser Stelle haben heute Nacht Elben gesessen und Lieder gesungen.
Aber Lieder zu singen, ist doch keine Magie!
Manchmal schon, meine Tochter, manchmal schon.

Im Hier und jetzt riss Dinka ihre Augen auf. Sie hat mir tatsächlich etwas über verschiedene Arten der Magie beigebracht. Wie konnte ich das nur vergessen?
»Halt!« Erschrocken fuhr sie zusammen, als die Roya den Befehl donnerte. »Du bist ja kaum noch in der Lage, dich auf den Beinen zu halten. Setz dich hin und ruh dich für einen Moment aus. Ich habe etwas zu erledigen.«
Erschöpft ließ Dinka sich fallen. Wahrscheinlich würde sie sich aus eigener Kraft gar nicht mehr erheben können, aber darüber wollte sie sich gerade keine Gedanken machen. Ein grauenhafter  Schrei voller Qual ertönte in nächster Nähe und vertrieb jede Hoffnung auf ein wohlverdientes Schläfchen. Es knackte und krachte im Unterholz, und ein völlig ausgemergelt aussehender Gronte kam auf sie zugestolpert.
»Dinka, musst fliehen. Ist beschäftigt. Schnell.«
Entsetzt sah sie zu, wie der Chronist zusammenbrach. Seine schlaksigen Glieder zuckten wie im Krampf, die Finger krallten sich in den feuchten Waldboden. »Flieh!«, knurrte das blutlose Wesen, doch Dinka schaffte es nicht, auch nur einen Zeh zu bewegen.
»Zähes Bürschchen, das muss man ihm lassen. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich ihn so lange nutzen könnte.« Die Stimme gehörte zu einem wahren Hünen, einem Holzfäller, wie Dinka unschwer an seiner Zunftkleidung erkennen konnte. Doch die tiefschwarzen Augen verrieten ihr, um wen es sich in Wahrheit handelte.
»Was ist mit ihm? Wird er wieder gesund?«
Die Roya in neuer Gestalt warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Natürlich nicht, wo denkst du hin? Ich habe mir jede erdenkliche Mühe gegeben, seine Lebenskraft aufzuzehren. Da ist es schon bemerkenswert, dass er noch die Kraft hatte, sich bis hierher zu schleppen.« Sie verpasste dem jetzt leblos daliegenden Bündel noch einen Tritt, bevor sie sich wieder zum Gehen wandte. »Versuch erst gar nicht zu fliehen, Kleine, du kommst sowieso nicht weit. Ich brauche noch ein wenig Stärkung. Zum Glück hat der gute Holzfäller noch ein paar Kameraden dabei. Bin gleich wieder zurück.«
Erst als die Roya verschwunden war, kam wieder Leben in den abgezehrten Gronte. »Nimm meine Tasche.« Und als sie zögerte, heulte er geradezu auf: »Los, nimm!«
Vorsichtig näherte sie sich der am Boden liegenden Gestalt, doch ihre Instinkte warnten sie davor, diese zu berühren. Vielleicht gab es da noch einen Rest Roya oder auch Gronte, der sich in ihrem Körper einnisten wollte.
»Messer!«
Zuerst verstand sie nicht, doch dann zog sie das Messer, das Jiris ihr geschenkt hatte, aus dem Versteck im Stiefelschaft. Kaum groß genug, um sich damit die Essensreste aus den Zähnen zu pulen, hatten die beiden Krieger gespottet, doch immerhin so scharf, dass sie den Riemen von Grontes Tasche ohne Mühe durchtrennen konnte. Als der Chronist sich bewegte, sprang sie schnell außer Reichweite.
»Geheim. Weiß nichts. Flieh jetzt.« Immer leiser und undeutlicher wurden die Worte, dann war nur noch der rasselnde Atem zu hören, bis auch dieser Laut für immer verstummte.
In Wittamal hatte Dinka schon öfter mit Toten und Sterbende zu tun gehabt, schließlich war ihre Mutter die Heilerin des Dorfes gewesen. Auch den Verlust von jungen Einwohnern und Kindern hatte der Ort immer mal wieder zu beklagen gehabt, wenn es Unfall oder Krankheit forderten. Doch dieses hier war anders.
»Ich werde meine Mutter rächen«, versprach sie dem toten Chronisten, der viel zu früh und viel zu grausam aus dem Leben geschieden war. »Und auch deinen Tod werde ich rächen. Ich weiß heute noch nicht, wie ich das schaffe, aber ich werde nicht aufgeben, nach einem Weg zu suchen. So wie du immer nach Wissen und neuen Geschichten gesucht hast, mein Freund.«

Sie wischte die Tränen ab und verknotete den Riemen von Grontes Tasche, so dass sie sich diese umhängen konnte. Es war an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren, etwas zu wagen. Sie erhob sich und schloss die Augen. Fühlte, spürte - und tatsächlich konnte sie einen Hauch jener prickelnden Essenz wahrnehmen, den sie aus ihrer Erinnerung kannte. Doch diese hier war noch strahlender, noch funkelnder, obwohl sie weit entfernt zu sein schien. Ohne zu zögern, gab sie sich diesem Gefühl hin und machte sich bereit, die Magie wirken zu lassen. Sie hörte den Wutschrei der Roya, in dem eine gehörige Portion Überraschung mitschwang, doch sie wusste, dass jene zu weit entfernt war, um ihr in die Quere zu kommen. Sie atmete durch, hieß die Magie des Lebens willkommen, löste sich auf und ließ die Lichtung mit dem toten Gronte hinter sich.

 

  (Anathea DellEste)

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