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September - Sektlaune: Zu früh geurteilt

Zu früh geurteilt

 

„Hey, hast du zu viel gesoffen?“

Unsanft rempelt Martin gegen das junge blonde Mädchen, das auf ihn zuwankt. Sein Freund Jonas lacht und filmt weiter. Das wird eine tolle Szene auf dem Video für die Community werden.

„Hallo Freunde, wie ihr seht, sind die Studenten schon am Schulanfang in bester Sektlaune. Diese Dame torkelt lustig durch den Park und, oh Scheiße!“

Das Mädchen kippt vornüber und prallt mit voller Wucht auf den Asphalt. Weder Martin noch er hatten Zeit zu handeln. Hastig steckt Jonas sein Handy ein, beugt sich über die Ohnmächtige.

„Sie ist bewusstlos, Mann. Wir müssen was tun!“

Für ein paar Sekunden starrt Martin seinen Freund fassungslos, bis endlich der Groschen fällt. Sie ist in echter Not. Wie in Trance wählt er den Notruf. Jonas bringt das Opfer in die stabile Seitenlage.

„Kommen Sie?“

Martin nickt stumm. Was hat die nur? Hat sie sich bis ins Komma volllaufen lassen? Bestimmt, wie die geschwankt ist… Da kann nur Alkohol im Spiel sein. Martin hat da so seine eigenen Erfahrungen. 

Das näher kommende Blaulicht lässt ihn erleichtert aufatmen. Endlich ist Hilfe da. Die beiden Freunde beantworten die Fragen des Notarztes. Viel können sie nicht erzählen. Als der RTW mit heulenden Sirenen davonbraust, denken beide, es sei vorbei. Welch ein Trugschluss.

 

Schrill läutet es am nächsten Morgen an Martins Haustür. Er dreht sich auf die Seite. Unten hört er die Stimme seiner Mutter und zwei weitere, ihm unbekannte Personen. Jemand kommt die Treppe hoch und klopft heftig an seine Tür.

„Zieh dich an, die Polizei ist da.“

Der Satz wirkt besser als eine kalte Dusche. Schlagartig ist Martin wach. Wieso Polizei? Das war eine Betrunkene gestern…. Rasch zieht er sich an und überlegt, ob er Jonas anrufen soll. Eine kurze SMS tut es auch. Martin geht nach unten und starrt auf die beiden uniformierten Männer an.

„Guten Morgen.“, begrüßt er sie, sehr um Fassung bemüht. Wieso ist er unruhig? Er hat nichts Falsches getan. Oder? Das Filmen, das Rempeln. Hat irgendwer deswegen Anzeige erstattet?

„Guten Morgen. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen wegen des gestrigen Vorfalles stellen. Kennen Sie die Dame?“

„Nein.“

„Aus welcher Richtung kam sie?“

„Das weiß ich nicht. Warum fragen sie?“

„Die junge Frau hatte Rohypnol im Blut. Es liegt ein Verbrechen vor und sie werden als Zeuge befragt.“

Martin klappt die Kinnlade herunter. Dass irgendwer der Frau Böses angetan haben könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Wie konnte er an Alkohol denken? Weil er selbst gerne trinkt? In dem Moment kommt sich Martin schäbig vor. Er muss etwas tun.

„Mein Freund Jonas hat alles gefilmt. Da müsste zu sehen sein, wo sie herkam.“

Er weiß, dass es nicht erlaubt ist, Fremde gegen ihren Willen zu filmen. Schon gar nicht in dem Zustand, in dem die Frau war. Doch lieber ein Bußgeld als quälende Gewissensbisse.

„Rufen Sie ihren Freund an.“

Jonas ist nicht minder geschockt. Keine fünf Minuten später steht er vor der Haustür und übergibt sein Handy.

 

Beide Jungen erfahren nie, wie die Ermittlungen verlaufen sind,  aber den Namen der Unbekannten. Eines Morgens steht Emma zaghaft lächelnd vor ihnen.  Beide entschuldigen sich betreten. Und sie bedankt sich für ihre Hilfe, die Entschuldigung nimmt sie wortlos an.

 

(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)

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