Denn sie kommen immer wieder ...
Ernüchtert schaute Arthur sich in der heruntergekommenen Seitenstraße um. Sowas hatte man davon, wenn man aus einer Sekt- oder wie in seinem Fall einer Whiskylaune heraus, auf die Suche nach
einer beinahe vergessenen Vergangenheit ging. Er musterte die abgeblätterte Wandfarbe des Gebäudes und die mit vergilbten Graffiti beschmierte Eingangstür. Nein, an einem Ort wie diesem konnte
man jemanden wie Agnieszka nicht finden, niemals. Trotzdem schaffte er es kaum, sich von dem Anblick des schmuddeligen Hauses zu lösen. Wer sich große Mühe gab, der vermochte vielleicht sogar
noch, die verschnörkelten Buchstaben über dem Eingang zu entziffern. Les Dames des Roses - die Rosendamen, so hatte das kleine, aber feine Atelier der einzig wahren Liebe seines Lebens
geheißen. Ein leicht wehmütiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er sich erinnerte. Nacht für Nacht war er heimlich zu der Geliebten geschlichen und nach langem Liebesspiel befriedigt in
ihren Armen eingeschlafen. Dabei fiel ihm ein, dass er die Vordertür eigentlich nie benutzt hatte, sondern ihre Räume stets durch die Hintertür oder sogar über den Balkon betreten hatte. Sein
Grinsen vertiefte sich. Wie ein ganz toller Hecht war er sich damals vorgekommen. Während die anderen Jungs der Clique mit kleinen Mädchen ausgingen, traf er sich mit einer Frau, die Klasse
hatte. Und jede Menge Erfahrung, von der er jede Nacht profitierte, um anschließend die Tage in wilden, fiebrigen Träumen zu verschlafen.
Er schaute auf die Visitenkarte in seiner Hand, das Einzige, das ihm noch aus dieser Zeit mit ihr geblieben war. Ganz zufällig war sie aus einem alten Buch gerutscht, als er das Büro ein wenig
umgeräumt hatte. Obwohl er jahrelang nicht bewusst an Agnieszka gedacht hatte, überfiel ihn in dem Moment eine quälende Sehnsucht, die einfach nicht mehr abklingen wollte. Und nun war er hier -
hatte eine Geschäftsreise vorgetäuscht, nur um vor dieser Bruchbude zu stehen und in Erinnerungen zu schwelgen. Kopfschüttelnd drehte er sich um, bereit, die Vergangenheit für immer ruhen zu
lassen, als ihn der unverwechselbare Duft streifte.
Irritiert starrte er in die Düsternis. Wie in aller Welt war er in das Gebäude gelangt? Er konnte sich nicht erinnern und wollte schnell wieder hinaus, als ihm der Duft ihres Parfüms noch
intensiver in die Nase stieg. Er tastete sich zu der nächstgelegenen Wand vor, bis ihm endlich einfiel, sein Handy als Taschenlampe zu benutzen. »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte er vor sich
hin. »Das sind exakt dieselben Bilder wie damals.« Allerdings haftete kein Staub an ihnen, keine vorwitzige Spinne hatte sie mit ihren kunstvollen, jedoch klebrigen Fäden eingesponnen. »Kein
bisschen verblasst oder verschmutzt. Das ist unmöglich.«
»Ach, mein liebster Arthur, als wenn das menschliche Wesen all die wundersamen Dinge auf dieser Welt benennen könnte. Was habe ich in jener Zeit immer zu dir gesagt? Unwahrscheinlich vielleicht,
aber ...«
»Aber unmöglich niemals«, vollendete er den Satz ganz automatisch. Als er sein Handy hochhielt, um die Ecke zu beleuchten, aus der die Stimme gekommen war, wurde es dunkel, bildete nur noch einen
leichten Schein um ihn herum. »Was soll das denn jetzt?«, knurrte er unwillig.
»Man kann sich einfach nicht auf die neuartige Technik verlassen, nicht wahr?« In ihrer Stimme lag dieser vertraute Hauch von Trägheit, der zu seinem eigenen Erstaunen nach wie vor ungeheuer
erregend auf ihn wirkte. Er schluckte ein paar Mal, bevor er die alles entscheidende Frage zu stellen wagte. »Agnieszka? Bist du das wirklich?«
»Aber natürlich«, kam es zurück, und nun erkannte er auch jenes gewisse Etwas in ihrem Ton, ein leichtes Vibrieren, dass er in seiner Verliebtheit als Schnurren beschrieben hatte. »Wo sollte ich
denn sonst sein? Ich wusste doch, dass du eines Tages zu mir zurückkommen würdest.«
»Du hast auf mich gewartet?« Die Vorstellung erschütterte ihn zutiefst, denn das war das Letzte gewesen, womit er gerechnet hätte. »Aber du warst verschwunden! Du hast damals nur mit den
Schultern gezuckt, als ich dir erzählt habe, dass mein Vater mich ins Ausland schicken will. Und als ich am nächsten Tag zurückkam, bereit, mit dir bis ans Ende der Welt durchzubrennen, da warst
du fort.«
»Ich bin schon immer eine viel beschäftigte Frau gewesen. Und du, mein Liebster, warst einfach noch nicht reif genug.«
»Aber um mich in dein Bett zu zerren, dazu war ich reif genug?«
Ihr melodisches Lachen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Wie sehr hatte er es früher geliebt.
»Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich dich irgendwohin zerren musste, mein Schatz. Du bist mir willig gefolgt wie ein kleines Hündchen, das sich nach Streicheleinheiten verzehrt.«
So hatte sie auch damals zu ihm gesprochen, das wusste er, jetzt aber stieß es ihn ab. Egal, wie lockend das Lachen dazu klang, die Botschaft lautete deutlich, dass sie keinerlei Gefühle für ihn
hegte.
»Schön, dass wir das heute klären können - dein kleines Hündchen gibt es nicht mehr. Wir sind beide älter geworden, ich erwachsen und du eine alte Frau. Ich nehme an, dass du deshalb im Schatten
bleibst und dein Gesicht nicht zeigst.« Eigentlich hatte es ihn anfangs eher gerührt - die große Liebe, die vermeiden wollte, dass die Erinnerungen aus alten Zeiten von der traurigen Wirklichkeit
getrübt werden. Doch nun setzte er sogar noch nach: »Das ist der Fluch des enormen Altersunterschieds, richtig? Ich im besten Alter und du alt und runzelig.«
»Findest du mich tatsächlich so unansehnlich? Nur weil ein paar Jahre dazu gekommen sind?« Endlich bewegte sie sich, trat aus dem Schatten direkt auf ihn zu in den winzigen Lichtkreis, den das
Handy um ihn herum aus der Dunkelheit schnitt.
Er schnappte erschrocken nach Luft. »Was? Aber das ist unmöglich!«
Wieder ertönte dieses lockende, gurrende Lachen und zusammen mit ihrem betörenden Anblick begann es, wie früher auf ihn zu wirken. »Vielleicht sind es einfach nur die guten Gene? Sagt man das
heute nicht gern, wenn jemand langsamer verfällt als andere?«
Er wich vor ihr zurück. »Blödsinn! Niemand sieht nach fünfundzwanzig Jahren noch haargenau gleich aus. Du bist doch niemals über sechzig Jahre alt, was ist hier los?«
Ein Seufzen voller Melancholie und zugleich tiefster Zufriedenheit wehte durch den Raum. »Du warst schon immer gut darin, den Dingen auf den Grund zu gehen, mein Liebster. Auch deshalb habe ich
dich damals unter all den verführerischen Burschen ausgewählt. Ich wusste, dass ich mit dir am meisten Spaß haben werde.«
Er bemühte sich, Widerstand zu leisten, sich nicht von ihr umgarnen zu lassen, doch sie ließ ihm keine Wahl. Als sie auf ihn zukam, elegant und lautlos wie eine Raubkatze, empfand er wie die
sprichwörtliche Maus, denn er konnte sich nicht rühren, nur den tödlichen Biss erwarten. Biss? Was für ein unsinniger Gedanke! Er schüttelte die Benommenheit für einen kurzen Moment ab.
Doch als sie ihn erreicht, schwand die Vernunft im Nebel verworrener Gefühle und Gelüste dahin. Ihre Hände und Lippen schienen überall gleichzeitig zu sein, entfachten das alte Feuer in ihm und
dennoch kämpfte er gegen diese Anziehung an.
Der Schmerz traf ihn unerwartet, fuhr wie ein Blitzschlag durch den gesamten Körper. Das Lächeln der einstigen Geliebten wirkte nun furchterregend auf ihn, entblößte es doch scharfe Fangzähne,
von denen frisches Blut tropfte. Sein Blut! Bevor er reagieren konnte, versenkte sie ihre Zähne erneut in der weichen Haut seines Halses, und die Welt um ihn herum versank in
Dunkelheit.
So viel Kampfgeist, so viel Entschlossenheit. Agnieska, wie sie sich in diesen Zeiten nannte, wandelte trunken von dem köstlichen Lebenssaft die lange Treppe hinauf, die die verborgenen
Keller mit der normalen Wohnstätte verband. Oben angekommen hörte sie das Klopfen an der Hintertür - ungeduldig, jung und formbar wartete dort bereits ihr derzeitiger Zögling auf Einlass. Sie
lächelte. Auch er würde zu einem erfolgreichen, einem selbstbewussten Mann reifen, der zur rechten Zeit zu ihr zurückkam, um ihr dann für eine Weile die Existenz mit seinem köstlichen
Lebenselixier zu versüßen. Entkommen war noch keiner ...
(Anathea DellEste)
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