Jagdmond
»Aber wie kann es sein, dass wir gar keine Fährten mehr finden?« Frustriert stieß Rune mit der Stiefelspitze in den feuchten Boden, der seine Geheimnisse trotzdem nicht freigab. »Sie können ja
wohl kaum geflogen sein, oder?«
Der Elb an seiner Seite schüttelte den Kopf. »Nein.«
Diese knappe Antwort reizte Rune nur noch mehr. »Schön, dass wir einer Meinung sind. Und wirst du mir irgendwann verraten, was hier los ist? Hexerei?«
Zu seiner Verblüffung nickte Sree-Balan. »Ich denke, damit könntest du Recht haben. Es gibt weder Spuren auf dem Boden noch in der Luft. Es ist, als wären sie niemals hier gewesen, und ich
fürchte, genau das ist der Fall.«
Seufzend hockte sich der Wanderer auf einen großen Stein. »Erklär es mir.«
»Es ist gar nicht so kompliziert.« Der Elb zuckte mit den schmalen Schultern und starrte in die Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen waren. »Auf dem Weg hierher haben wir Zeitsprünge
gemacht. Wenn sie das jetzt ebenfalls tun, müsste der Zufall schon gewaltig sein, dass wir genau dort anhalten, wo auch sie zuvor gerastet haben.«
Für eine Weile blieb es still, dann fragte Rune doch noch einmal nach. »Du meinst also, dass Dinka genau weiß, wer und was sie ist? Und dass sie bereits über ihre Fähigkeiten verfügen kann?« Als
er wieder nur ein knappes »Nein« zur Antwort bekam, platzte ihm der Kragen. »Dämonenrotze! Sree, sprich mit mir! Was geht hier vor sich?«
Der Elb stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wir beide haben nicht gut genug aufgepasst, mein alter Freund. Es ist nicht das Mädchen.«
Das musste er erst einmal sacken lassen. »Du meinst ... Gronte?«
Wieder gab der Elb zunächst nur ein »Nein« von sich, setzte nach einen kurzen Seitenblick auf den erzürnten Rune aber schnell nach: »Er hat sich verändert, nicht wahr?«
»Natürlich hat er das. Es war eine Reise voller Anstrengungen und Überraschungen. Sowas verändert immer. Worauf willst du hinaus?«
Sree-Balan starrte für einen Moment hinauf zu den schnell vorbeiziehenden Wolken. »Unser stets misstrauischer Jiris hat ganz nebenbei die richtige Frage gestellt - seit wann kannte sich der junge
Chronist auf einmal so gut aus, was die Gepflogenheiten der Royas angeht?« Er machte erneut eine Pause, ließ Rune Zeit, sich seine eigenen Gedanken darüber zu machen.
»Du meinst, es ist unterwegs etwas mit ihm geschehen?«
»Er war außergewöhnlich aufgeregt, als wir die Aufzeichnungen der toten Roya gefunden haben, erinnerst du dich?«
»Ja«, murmelte Rune und versuchte, sich diesen Moment noch einmal genau vor Augen zu führen. »Das war wirklich das erste Mal, dass er so wütend, aber auch so energisch zu uns gesprochen hat.
Vielleicht war er enttäuscht, dass nicht er ... Warte!« Er schaute seinen Freund ungläubig an. »Du glaubst doch nicht etwa ...«
Doch Sree-Balan schenkte ihm einen betrübten Blick. »Doch, ich glaube, sie war nur entleibt. Du weißt aus eigener Erfahrung, wie ungemein schwer es ist, eine von ihnen wirklich für immer zu
töten.«
Rune spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er würgte. »Was muss der arme Junge gelitten haben.« Er schlug mit der Faust gegen den nächsten Baum, bis sein Freund ihn davon wegzog. »Verdammte
Roya-Brut! Wir laufen direkt neben ihm und bekommen nichts mit? Was ist los mit uns? Weshalb versagen wir so jämmerlich? Werden sie wirklich immer stärker, und bald sind wir ihnen völlig
ausgeliefert?«
»Es macht keinen Sinn, sich selbst zu quälen, mein Freund«, unterbrach der Elb seinen Ausbruch. »Wir werden auch weiterhin tun, was getan werden muss.«
Doch der ewige Wanderer vermochte seinem Rat nicht zu folgen. »Sieh ihn dir an.« Anklagend deutete er auf den aufgegangenen Mond, der sich rund und bleich präsentierte. »Es ist Jagdmond, und du
weißt selbst, es gibt keine bessere Zeit für das Verfolgen und Stellen von Feinden. Und wir, die schon so viele solcher Jagden erfolgreich beendet haben, gehen nun ständig in die falsche
Richtung! Steht unser Schicksal auf einmal unter einem Unglücksstern?«
»Nein, Rune«, widersprach ihm der Elb und legte eine Hand auf seine Schulter, eine Vertraulichkeit, die nur selten vorkam. »Dies ist nur der normale Lauf der Dinge. Selbst wir erfahrenen Jäger
sind nicht unfehlbar, auch wenn es uns manchmal so scheint. Das wirklich schlechte Omen, der Blutmond, steht uns noch bevor. Jetzt komm, die Nacht ist jung und wir müssen herausfinden, was mit
unseren jungen Weggefährten geschehen ist.«
»Wenn..«, setzte Rune an, brach aber ab, als er die unsichtbare Bewegung der Magie spürte.
Nur wenige Schritte von ihnen entfernt tauchte eine Gestalt auf der Lichtung auf - ein sehr großer, kräftiger Mann, der sich suchend umschaute. Bevor die beiden reagieren konnten, hatte er sich
umgedreht und sie entdeckt.
»Ihr schon wieder!, knurrte er angewidert. »Beim nächsten Wiedersehen werde ich mich an euren Eingeweiden satt essen.« Mit dieser Drohung verschwand er wieder im Nichts.
»Das bedeutet wohl nicht Gutes für unseren jungen Freund, nehme ich an?« Rune sah seinen Begleiter fragend an, doch sie wurden erneut unterbrochen.
Fast an gleicher Stelle tauchte nun eine kleinere, schlanke Figur auf, die darauf gefasst zu sein schien, jeden Moment angegriffen zu werden.
»Dinka?« Rune mochte nicht glauben, dass sie tatsächlich ohne Hilfe zu magischen Sprüngen fähig war.
Mit einem leisen Aufschrei fuhr das Mädchen herum, und als sie erkannte, wer auf sie wartete, kam sie auf sie zugelaufen. Doch kurz vor ihnen blieb sie abrupt stehen, und Rune konnte das
Misstrauen in ihren Augen deutlich erkennen.
»Wir sind es wirklich, Dinka«, brach der Elb schließlich das Schweigen mit seiner sanften Stimme. »Die Roya ist immer noch auf der Suche nach dir.«
Das Mädchen wich zurück. »Ihr wisst es? Und ihr habt einfach zugesehen, wie sie Gronte langsam vor unseren Augen getötet hat? Was seid ihr für Scheusale!«
»Hey«, mischte sich Rune ein und hob beschwichtigend die Hand. »Wir haben gar nichts gewusst, bevor ihr beide verschwunden seid. Aber es gibt nun einmal nur zwei Möglichkeiten: Entweder stimmte
etwas nicht mit Gronte.« Er machte eine kurze Pause und sah sie forschend an. »Oder du hast uns belogen und weißt viel mehr über die Magie der Royas, als du uns erzählt hast.« Die Bestürzung in
ihren Augen entging ihm nicht, obwohl sie den Blick sofort senkte. Er fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Sie hatte also doch Geheimnisse vor ihnen, und er hätte schwören können ...
»Wo ist Gronte jetzt?«, unterbrach Sree seine schweren Gedanken.
»Sie hat ihn weggeworfen wie einen alten, ausgedienten Lumpen. Dieses widerwärtige Geschöpf hat regelrecht darauf gewartet, dass er stirbt.«
Rune konnte seinem langjährigen Freund ansehen, wie viel es ihn kostete, mit der gewohnten Ruhe zu antworten. Auch an ihm nagte es, dass sie nicht viel früher erkannt hatten, wer da in ihrer
Mitte geweilt hatte, und wer konnte jetzt noch sagen, ob sie der Roya nicht unbeabsichtigt irgendeine kleine, aber wichtige Information gegeben hatten. Ihre Nachlässigkeit könnte sich noch bitter
rächen. Doch Srees Stimme waren diese Zweifel nicht anzumerken, als er antwortete: »Das ist ihr Wesen, sie lieben es, andere regelrecht aufzuzehren. Es ist allerdings erstaunlich, wie lange sich
unser junger Freund gegen sie behaupten konnte.«
»Hat er das denn?« Bitter schaute Dinka von einem zu anderen, und Rune entging als geübtem Beobachter nicht, wie sich ihre Mundwinkel verächtlich verzogen. Diese Verachtung galt keineswegs dem
jungen Chronisten, sondern denjenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre, die beiden jüngsten Gefährten vor solchen Gefahren zu schützen. »Wenn ihr nicht geahnt habt, dass sie überhaupt da war, wie
wollt ihr dann jetzt wissen, was geschehen ist?«
»Warst du bei ihm, als er den Weg in die Vergessenheit betreten hat?« Und als sie nickte, fragte er weiter: »Und war er da wieder er selbst, oder konnte er keine klaren Sätze sprechen? Denn wenn
er noch verständlich mit dir reden konnte, dann hat er es die ganze Zeit geschafft, zumindest einen winzigen Teil seines Selbst vor ihr zu bewahren. Das schaffen nur ganz wenige, besonders in so
jungen Jahren.«
»Er schien recht genau zu wissen, was los war. Moment, er hat sogar ...« Sie ließ ihre eigene Tasche sowie auch die von Grontes zu Boden gleiten, doch bevor sie weitersprechen konnte, tauchte
hinter ihr eine große Gestalt auf, um sich eine der Taschen zu schnappen. Mit einem lauten Schrei warf sich das Mädchen auf den Dieb, doch dieser war bereits wieder verschwunden. Rune
beobachtete, wie Dinka die Augen schloss, um jene Magie herbeizurufen, die ihr dabei helfen würde, die Verfolgung aufzunehmen. Doch jäh riss sie die Augen wieder auf. »Was war das? Ich konnte die
Spur genau wahrnehmen, und dann war sie plötzlich fort. Kann sie sich abschirmen, verhindern, dass ich ihr folge?«
»Das war ich«, gab Sree-Balan unumwunden zu und ignorierte ihren wütenden Blick. »Wir werden noch darüber reden müssen, weshalb du diese bestimmte Art der Magie plötzlich beherrschst. Aber wir
sind uns doch wohl jetzt schon einig, dass du kaum in der Lage sein würdest, eine Roya zu bezwingen, falls du sie wirklich einholen solltest, oder?«
»Keine Ahnung«, musste das Mädchen zugeben, allerdings wirkte sie nicht sonderlich beeindruckt. »Vielleicht weiß ich, was zu tun ist, wenn ich erst einmal in der Situation bin. Wie ich schon
gesagt habe - meine Mutter hat mir nie direkt etwas über Magie erzählt, aber eben doch viele Dinge beigebracht, die sich jetzt in Nachhinein als eben dies herausstellen könnten.«
Rune schüttelte den Kopf. »Ein bisschen gefährlich, sich auf jede Menge »Wenn« und »Vielleicht« zu verlassen, findest du nicht?«
»Und was schlägst du vor, alter Mann? Das Übliche tun wie immer, nämlich gar nichts?«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr es in dem Mädchen vor Hass gärte. Es hatte so ausgesehen, als ob Dinka die Trauer über den Verlust der Mutter und die Erschütterung wegen des grausamen
Todes von Grone erstaunlich gut wegstecken würde, doch dies war nur die oberflächliche Reaktion. Natürlich litt sie, und Rache schien in solchen Momenten stets die beste Medizin zu sein, wie er
aus eigener Erfahrung sehr wohl wusste.
»Du willst also Rache?«
»Und ob ich das will«, bekam er prompt zur Antwort. »Ich werde mich nicht in die Ecke setzen und abwarten, bis meine Haare weiß und die Knochen steif geworden sind! Dies wird mir irgendwie dabei
helfen, da bin ich mir sicher.« Sie streckte ihm das Dwyndirlok ihrer Mutter herausfordernd entgegen.
Bevor Rune darauf antworten konnte, hatte sie kehrtgemacht, um die Tasche aufzusammeln, an der die Roya kein Interesse gezeigt hatte.
»Und was tun wir jetzt?«, nutzte er die Gelegenheit, um sich mit Sree-Balan zu beraten, der die Unterhaltung schweigend mitangehört hatte. »Bringen wir sie in Sicherheit, dann entkommt uns diese
Roya ohne jeden Zweifel. Oder überlassen wir das Mädchen sich selbst, um auf die Jagd zu gehen, und verfluchen uns später selbst, wenn ihr etwas geschehen sollte?«
Der Elb wandte ihm das bleiche Gesicht zu. »Wir werden auf die Jagd gehen, mein treuer Freund. Eine Roya einfach so ziehen zu lassen, das haben wir noch nie getan, und wir sollten nun nicht damit
anfangen. Das Mädchen wird uns begleiten.«
Rune nickte. Auch er wollte Dinka nicht mehr aus den Augen lassen, bis geklärt war, wer und was sie in Wirklichkeit war. Geduldig, aber unbeugsam hörte er sich ihr Gezeter an, mit dem sie ihren
Unwillen lautstark kundtat, als er ihr den Plan erläuterte. Von ihr unbemerkt folgte die Krähe dem Befehl ihres Meisters und verschwand stumm in der Morgendämmerung.
(Anathea DellEste)
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