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Monatsgeschichte Oktober: Blutmond

Blutmond

Sie hatten erst wenige Zeitsprünge durchgeführt, als sie auf einer Lichtung landeten, wo ein heimeliges Feuer die Nacht erhellte. Die junge Händlerin schreckte von der Zubereitung ihres Abendmahls hoch, um nach der Armbrust zu greifen, die neben den Packstücken bereit lag.
»Lass sie einfach liegen«, knurrte Rune zu Dinkas Überraschung. »Sparen wir uns das Spielchen; gib dich einfach zu erkennen.«
»Uh, wie langweilig!« Die junge hübsche Frau zwinkerte ihnen kokett zu, und Dinka wich unwillkürlich zurück, als sie den Blick der pechschwarzen Augen auf sich fühlte. »Ich dachte, wir spielen erst noch ein bisschen, bevor es ungemütlich wird. Zumindest für euch.« Sie lachte und schlenderte auf die drei Neuankömmlinge zu. Ihr silbern lackierter Fingernagel zeigte erst auf Rune, dann auf den schweigsamen Elben. »Ich glaube, ich habe euch beiden bei unserem letzten Aufeinandertreffen etwas versprochen, nicht wahr?« Die Roya wiegte sich verführerisch in den Hüften und fuhr mit der Zunge über die roten Lippen. »Wenn ich mich recht entsinne, ging es dabei um eure köstlichen Eingeweide, die ich über dem Lagerfeuer rösten und mit Genuss verspeisen werde.«
»Daraus wird nichts, Schätzchen«, ertönte es von der gegenüberliegenden Seite des Lagers, und Dinka atmete erleichtert auf, als Jiris und die beiden Krieger aus dem Schatten traten. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an, denn sie erlebte zum ersten Mal mit, warum es als unmöglich galt, ein Roya zu töten. Diese Kreatur des Bösen war nicht nur blitzschnell, sondern verfügte auch über enorme Körperkräfte. Ungläubig beobachtete Dinka, wie der bärenstarke Norgon von einem einzigen Hieb in die Büsche geschleudert wurde. Keti und Jiris hingegen versuchten, die Roya zu verletzen, ohne in ihre direkte Reichweite zu geraten. Beide waren überaus geschickt, und bald blutete ihre Gegnerin aus zahlreichen Wunden, was sie allerdings nicht im Geringsten zu beeinträchtigen schien. Obwohl sie zwei Angreifer sowie die von Rune verschossenen Pfeile abwehren musste, schien sie kein bisschen zu ermüden, während Dinka deutlich sehen konnte, dass die Kräfte ihrer Freunde langsam, aber stetig abnahmen. Norgon stieß wieder dazu, schaffte es, der Roya einen Schwerthieb über den Rücken zu verpassen, wurde dafür aber mit solch einer Gewalt gegen einen Baumstamm geschmettert, dass man seine Rippen brechen hörte. Doch statt aufzugeben, stieß der Krieger einen lauten Schrei aus, erhob sich und riss sich Weste und Hemd vom Leib. Mit offenem Mund starrte Dinka auf die Tätowierungen, die seinen gesamten Oberkörper bedeckten und jetzt rotgolden aufglühten.
»Runenstreiter«, murmelte Sree-Balan. »Um eine dieser magischen Runen zu erhalten, muss man ein Meister der jeweiligen Kampfkunst sein. Viele sterben bei der letzten Prüfung, doch wer eine Rune erhält, wird dadurch fast unbesiegbar.«
Auch Keti hatte einen Teil ihrer Kleidung abgelegt, und genau wie ihr Gefährte war sie über und über mit diesen glühenden Zeichen versehen.
»Werden sie sie besiegen?«, flüsterte Dinka zurück, doch der Elb antwortete nicht. Schweigend sahen sie zu, wie sich die beiden Krieger einen mörderischen Kampf mit der Roya lieferten, wobei diese eher beflügelt als beeindruckt wirkte.
Dinka verfolgte den brutalen Kampf mit weit aufgerissenen Augen, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste ihrer Weggefährten von der sich austobenden Roya getötet werden würde. Sie umklammerte ihr winziges Messer. Vielleicht war es besser, jetzt gleich im Getümmel getötet zu werden, als später in die Hände der Roya zu fallen?

Es dauerte eine Weile, bis sie es hörte, und sogar noch länger, bis sie begriff, was es war. Eine dunkle, gebieterische Stimme erhob sich, zunächst noch übertönt vom Kampfgeschrei, dann immer lauter und deutlicher, bis sie nicht mehr zu überhören war. Entsetzt blickte Dinka zur Seite und starrte Rune an, der mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen am Rand der Lichtung stand und diesen Gesang angestimmt hatte, der ihre Nerven zum Vibrieren brachte. Unmöglich! Das darf nicht sein! Sie hatte keine Ahnung, wozu eine Roya am Ende fähig war, aber was ein Bannsänger anrichten konnte, das hatte sie schon einmal erfahren müssen. Wild entschlossen umklammerte sie den Griff ihres Messers und setzte sich in Bewegung.
»Nein!« Sree-Balan erschien wie aus dem Nichts neben ihr, um ihr die Waffe abzunehmen. Er hielt sie fest. »Lenk ihn jetzt nicht ab. Er ist unsere einzige Hoffnung, diesen Kampf zu überstehen, ihn vielleicht sogar zu gewinnen.«
»Ein Bannsänger?« Ihr tiefes Entsetzen lag in dieser Frage, doch der Elb lächelte nur.
»Ein geläuterter Bannsänger, mein Kind.« Er deutete auf den in seinem Gesang versunkenen Rnne, der inzwischen Mantel und Hemd abgelegt hatte und ähnliche Zeichen aufwies wie die beiden Krieger. »Und ein Runenstreiter obendrein. In einem Kampf gegen die Royas kannst du dir keine bessere Unterstützung wünschen.«
Ihre Gegnerin schien der gleichen Meinung zu sein. Bisher hatte sie lautlos und mit einem boshaften Grinsen auf den Lippen gekämpft, doch als der Sänger ins Geschehen eingriff, änderte sich dies. Das Gesicht zu einer Fratze verzogen zischte, fauchte und kreischte sie, als wollte sie sein grausiges Lied übertönen.
Um Rune herum bildete sich ein Kreis aus schwarzem Dunst, und Dinka verbarg ihr Gesicht in Sree-Balans Umhang. Sie wollte nicht noch einmal mitansehen, wie Dämonen im Bann ihres Sängers mordeten. Jiris und die beiden Krieger waren der Roya viel zu nah, und die Dämonen würden keinen Unterschied machen.
Das Geschrei, Geheul und vor allem die wiederkehrenden Schmerzensschreie schienen kein Ende nehmen zu wollen, und doch endete der Kampf ganz plötzlich. Selbst das irre Geschnatter der Dämonen verstummte. Hatte die Roya selbst diese bezwungen? Vorsichtig drehte Dinka den Kopf und sank vor Erleichterung zu Boden, als sie alle Weggefährten arg zerschunden, aber immerhin lebendig neben dem zertrampelten Lagerfeuer stehen sah.


»Bist du verletzt?«
Doch Dinka sprang sofort auf, um sich hinter den hochgewachsenen Elben zu schieben, als Rune mit besorgt gerunzelter Stirn auf sie zutrat. »Geh weg, Bannsänger. Fass mich ja nicht an!«
»Sie scheint eine Abneigung gegen deinesgleichen zu haben«, klärte Sree-Balan den verblüfften Freund auf, und Dinka verstand wirklich nicht, warum alle darüber lachten.
»Wo ist sie hin?«, lenkte sie das Gespräch wieder auf ihre Gegnerin. »Ist sie tot?«
»Schön wär‘s.« Jiris war der Erste, der wieder ernst wurde. »Wir sind nachlässig gewesen. Sie konnte fliehen.«
»Aber wie hat sie das geschafft?« Norgon blickte sich misstrauisch um. »Auf einmal war sie verschwunden.«
Keti stand mit verschränkten Armen neben ihm und starrte Sree-Blan finster an. »Ich dachte, du wolltest sie vom Ortwechseln abhalten? Das hat ja großartig funktioniert.«
Doch der Elb schüttelte den Kopf. »Sie hat sich nicht an einen anderen Ort versetzt, sondern in ein anderes Wesen. Ist keinem von euch der Hase aufgefallen, der da drüben am Waldrand aufgesprungen und dann geflüchtet ist? Dort werden wir sicher auch die Überreste der jungen Händlerin finden.«
»Ein Tier?«, grunzte Norgon ungläubig. »Seit wann verkriechen sich Royas denn in Tieren? Ist ja widerlich!« Er spuckte aus und hätte beinahe Jiris getroffen, der in letzter Sekunde ausweichen konnte.
»Hey! Pass gefälligst auf, wo du hinrotzt, du ungehobelter Dämonenfurz!« Das Grinsen der beiden Krieger ignorierte er und starrte auf das Unterholz, in dem der Hase längst verschwunden war. »Sowas tun sie nur im äußersten Notfall, und das heißt, wir haben sie ordentlich erwischt!«
»Dann nichts wie hinterher«, knurrte Keti. »Für eine weitere Kerbe auf meinem Messergriff bin ich immer zu haben.«
»Du willst einen Hasen verfolgen? Den kriegst du doch nie«, stammelte Dinka, die sich nur mühsam von all den Geschehnissen erholte.
»Braucht sie auch gar nicht«, meldete sich der Gaukler erneut zu Wort. »Wenn sie in dieser Gestalt bei den Royas eintrifft, wird man sie nicht willkommen heißen. Je schwächer die Gestalt, in der die Roya unterwegs ist, desto tiefer sinkt ihr Status.« Er grinste spöttisch. »Und wenn sie als Hase versucht, sich einem Menschen zu nähern, landet sie höchstwahrscheinlich im Kochtopf.«
»Ja, lasst sie laufen«, stimmte Rune zu. »Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er warf Dinka einen Blick zu, den sie nicht einordnen konnte. »Es wird dringend Zeit, dich nach Stellanar zu bringen. Die Sternen-Elben werden entscheiden, was nun mit dir geschehen soll.«
Dinka nickte. Einen anderen Weg schien es für sie nicht zu geben.

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