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November - Nachthimmel: Verblasste Wegweiser

Verblasste Wegweiser

 

„Was ziehst du denn für ein Gesicht? Wurde dein Lieblings-Manga abgesetzt?“, versuchte Henner, beim gemeinsamen Abendessen zu scherzen, doch sein Sohn Tim warf ihm nur einen genervten Blick zu.

„Mangas gucke ich schon ewig nicht mehr. Du bist echt nie aktuell.“

„Oh? Und was bereitet dir dann so eine miese Laune?“

Tim seufzte theatralisch und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Wälzer, der neben seinem Teller lag. „Ein Referat über die Sterne. Gibt es etwas noch Langweiligeres?“

 Henner zog die Schwarte zu sich herüber, um die Kapitelübersicht zu studieren. „Puh“, machte er nach einer Weile. „Das ist echtes Fachchinesisch. Warum schaust du nicht ins Internet? Da findest du bestimmt jede Menge Informationen zu dem Thema, und zwar viel unterhaltsamer aufbereitet.“

Die Begeisterung seines Sohnes hielt sich in Grenzen. „Habe ich schon, aber entweder ist es mega kompliziert oder für Babys.“

„Beflügelt der Sternhimmel deine Fantasie denn gar nicht?“, staunte Henner. „Du bist doch sicher schon nachts draußen gewesen, um ihn dir anzusehen?“

Tim zuckte mit den Achseln. „Glaub nicht.“

Henner dachte an die vielen Nächte, in denen er sich als Junge aus dem Haus geschlichen hatte. Er hatte Stunden in der Hängematte damit verbracht, den beeindruckenden Nachthimmel zu studieren. Oft träumte er davon, als Astronaut von einem Planeten zum anderen zu reisen, oder er hoffte, dass im Maisfeld nebenan kleine grüne Männchen landen würden. Es waren tolle Erinnerungen. Es war seine Großmutter gewesen, die ihm die Wunder der Nacht zeigte, die Sternbilder, die verschiedenen Mondphasen und das glimmende Feuerwerk eines Sternschnuppenregens. Wieso hatte er es versäumt, Tim ähnliche Erfahrungen zu ermöglichen?

Heute lebten sie allerdings in einer Großstadt, die nicht unbedingt dazu einlud, sich nachts draußen herumzutreiben.

„Lass uns vor die Tür gehen. Vielleicht kann ich noch ein paar der Sternbilder finden.“

Tim zeigte wenig Lust, doch Henner ließ keine Widerworte gelten. Sie mussten nicht weit laufen, um einen freien Blick auf den Himmel zu erhaschen, aber zu seiner Enttäuschung gab es kaum etwas zu sehen. Nur zwei, drei helle Punkte blinkten einsam aus der Schwärze herab.

„Was ist das hier? Man erkennt ja gar nichts!“

„Jau“, maulte sein Sohn. „Mega spannend.“

 

Es ließ Henner keine Ruhe - was war mit dem Himmel los? Er arbeitete sich durch eine Unzahl von Links und führte sogar ein Telefonat mit dem engagierten Mitarbeiter einer Sternwarte. Als Tim am Abend neugierig über seine Schulter lugte, hatte er den Übeltäter ausgemacht.

„Es liegt am Lichtsmog, dass wir hier keinen ordentlichen Sternhimmel zu sehen bekommen“, klärte er seinen verblüfften Sohn auf.

„Woran?“

„An all dem Licht, das während der gesamten Nacht unsere Städte und Straßen beleuchtet. Man braucht Dunkelheit, um die Lichtpunkte am Himmel erkennen zu können. Hier steht‘s - ein großer Teil der Lichtverschmutzung rührt von schlecht konstruierten oder ineffektiv installierten Lichtquellen her. Dabei wäre das absolut vermeidbar, ganz ohne negative Folgen.“

„Dann kann man die Sterne gar nicht mehr beobachten?“

Henner schüttelte bedauernd den Kopf. „In einer Stadt kaum noch. Die schreiben hier, dass sich die professionellen Astronomen längst zurückgezogen haben. Die machen ihre Beobachtungen jetzt in den entlegensten Gebieten der Erde oder im Weltraum selbst. Der Nachwuchs oder alte Stern-Nostalgiker wie ich haben da keine Chance.“

Tim zuckte mit den Achseln. „Schade, aber auch nicht wirklich schlimm, oder? Wenn‘s doch nur ein Hobby ist.“

„Hm, ich finde es schon bedrückend, dass es nun so einige junge Leute gibt, die nie von dieser Weite, dieser Schönheit inspiriert werden.“

„Was?“ Tim kicherte. „Vom Sterne-Gucken kriegt man Ideen?“

„Aber sicher! Schon immer haben die Menschen in den Nachthimmel geschaut und aus ihren Erfahrungen Gesetze gemacht, zum Beispiel wann der günstigste Moment für die Aussaat war. Man konnte die Zeit bestimmen und erstellte Kalender. Ohne die Sternkunde hätte der Mensch auch nie neue Länder oder gar Kontinente entdeckt. Die Sterne waren sozusagen die Wegweiser in die Zukunft.“

„Okay.“ Henner erkannte am Tonfall, dass diese Fakten einen gewissen Eindruck auf seinen Sohn machten. „Ich hätte nie gedacht, dass die Sterne für uns Menschen so wichtig gewesen sind.“

„Gewesen sind?“

„Na, im Ernst. Wozu brauchen wir die Pünktchen am Himmel denn heute noch?“

Henner runzelte die Stirn. „In den Jahrmillionen, bevor der Mensch auf der Bildfläche erschienen ist, hat sich alles dem Rhythmus von Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit angepasst. Man kann besser schlafen, entspannen oder regenerieren, wenn es dunkel ist.“ Er überflog den nächsten Abschnitt und tippte mit dem Finger auf den Monitor. „Glühwürmchen brauchen die Dunkelheit sogar, um sich fortpflanzen zu können, die anderen nachtaktiven Tiere für die Nahrungssuche. Sogar die Pflanzen benötigen diesen Takt für die Photosynthese.“ Er zwinkerte Tim zu. „Überzeugt?“

Dieser zog die Nase kraus. „Und deshalb kommt man noch heute auf neue Ideen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Momentan blicken wir tief ins All hinein, beobachten, wie neue Sterne geboren werden oder wie sie sich nach ihrem Tod in eine Super Nova verwandeln. Hier schau mal.“ Henner drehte den Monitor, damit Tim sich verschiedene Bilder ansehen konnte.

„Sieht schon krass cool aus“, gab dieser zu, als sich der Adler-Nebel in seiner ganzen Pracht zeigte.

„Ohne die Raumfahrt gäbe es übrigens vieles nicht, was wir heute im Alltag nutzen. Akku-Bohrer zum Beispiel, die Teflon-Beschichtung oder den Klettverschluss. Nicht jeder, der sich für die Sterne interessiert, möchte auf fremde Planeten reisen, hat aber vielleicht eine Lösung für die Probleme der Raumfahrer parat, auf die andere nie gekommen wären.“ Henner seufzte. „Als Kind brauchte ich nachts nur aus dem Haus zu treten, um die Sterne zu bewundern. Man sieht sie, wird neugierig, eignet sich Wissen darüber an, und auf einmal ist man sowas wie ein kleiner Wissenschaftler.“ Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: „Aber wie begeistert man sich für etwas, das im Alltag gar nicht mehr wahrzunehmen ist?“

Tim starrte auf den Bildschirm. „Du meinst, irgendwann gibt es keine Sternenforscher mehr? Wir vergessen die Sterne, weil wir sie ohne Hilfsmittel nicht mehr sehen können?“ Er schüttelte den Kopf. „Nee, da muss man doch nur etwas an der ständigen Beleuchtung ändern. Vielleicht reicht es schon aus, wenn der Neigungswinkel der Lampen...“

Henner grinste seinen Sohn breit an. „Siehst du? Auf einmal kommen dir Ideen, wie man ein gewisses Problem mit neuen Technologien angehen könnte. Und wer weiß? Wenn du dranbleibst, schreibst du vielleicht eine Software, die die Straßenbeleuchtung revolutioniert. Oder du entwickelst neuartige Leuchtmittel, die uns hier unten bei Nacht als Wegweiser dienen, ohne die dort oben verblassen zu lassen.“

„Ultra-krass!“ Tim machte abrupt kehrt. „Ich muss mir da mal gerade etwas aufschreiben.“

„Und denk an dein Referat“, rief Henner ihm nach, aber sein Sohn war bereits verschwunden. Mit einem breiten Grinsen wandte er sich wieder dem Bildschirm zu. „Wie ich gesagt habe, die Sterne weisen uns noch immer den Weg zu Neuem.“

 

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