Fröstelnd stand Emma am Grab ihrer Tochter. Der kalte Wind peitschte in ihr Gesicht, Laub fiel auf sie herab. Mit der größten Mühe gelang es Emma ein Grablicht in die dafür mit einer Taube verzierten Laterne anzuzünden. Sie schloss die Tür und begann Lauras Schlaflied zu summen. Morgen war Allerheiligen. Da würde sie dann nicht alleine auf dem Friedhof sein und ihr vorsingen können. Aber das war ihr egal. Allerheiligen bedeutete für Emma mit anderen Trauernden zusammen sein zu dürfen, das Versprechen auf ein neues Leben jenseits dieser Grenze zu hören. Diese Hoffnung war alles, war ihr blieb. Morgen würde sie das Recht haben zu trauern, und über den Tod zu grübeln. Zwei Dinge, die in der heutigen Gesellschaft vollkommen unmöglich waren.
Vor einem Jahre war ihre Tochter zur Schule gefahren und sie kam nicht wieder. Stattdessen hatte die Polizei mit einem Psychologen an ihrer Tür gestanden. Wie in Trance hatte Emma die Hiobsbotschaft empfangen. Ein Autofahrer, der einfach, weil er zu spät dran war, das rote Signal ignorierte. Seine Angst, die Arbeit zu verlieren, hatte ihrer Laura das Leben gekostet. Am Anfang waren die Angehörigen und Bekannte verständlich. Es gibt nichts Schlimmeres für Eltern, als ihr eigenes Fleisch und Blut begraben zu müssen. Aber nach drei Tagen kam bereits Post von ihrem Arbeitgeber. Er wollte wissen, wann sie gedenke wieder auf ihrem Posten zu sein. Drei Tage, mehr erlaubte das System für das Begräbnis eines nahen Verwandten nicht. Sie nahm sich Urlaub. Was für Verständnis einerseits sorgte, es aber andererseits Kollegen gab, die murrten. Durch den Personalmangel, war Emmas Präsenz nötig, damit andere sich frei nehmen konnten. Weil sie fehlte, mussten Mitarbeiter auf ihre langersehnten Ferien verzichten. Aber auch der Urlaub reichte Emma nicht, um wieder ins Leben zurückzufinden. Nach drei Monaten überlebte ihre Ehe diese Krise nicht. Ihr Mann, der zu Beginn trauerte, ihr beistand, befand nach einer Zeit, dass es weitergehen musste. Ihre Arbeit verlor sie kurz darauf. Als Begründung stand, dass man auf Mitarbeiter, die dauernd krankgeschrieben seien, verzichten könnte. Nein, Trauern, das war nur drei Tage lang geduldet. Keiner schien zu begreifen, dass Emma nicht über diesen Verlust hinwegkam. Morgen würde sie in die Kirche gehen. In Ruhe, ihren Tränen inmitten der Menschen freien Lauf lassen. Etwas, dass in der schnelllebigen, Anti-Dying- Gesellschaft verpönt war. Mit Wehmut dachte Emma an ihre Verwandten, die sich zurückgezogen hatten. Selbst ihre Tante, die sie einst auf Händen trug, rief nicht mehr an. Sie sagte es zwar nicht laut, aber ihr Seufzen, dass sie mehr schlecht als recht verbarg, war eindeutig. Ihr war das Geheule zu viel.
„Sie haben eine wunderschöne Stimme.“
Emma fuhr zusammen, kehrte aus den Gedanken abrupt an das nasskalte Grab zurück. Sie wirbelte herum. Ein junger Mann in schwarzem Regenmantel stand mit ernster Miene hinter ihr.
„Danke.“ Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Der Fremde reichte ihr ein Taschentuch. „Es stört mich nicht. Wer hierher kommt, trauert, oder gedenkt seiner Liebsten, die bereits die letzte Reise angetreten haben. Ich denke, ein warmer Kaffee würde Ihnen guttun.“
„Oh nein. Danke. Ich kann das nicht.“
„Keine Sorge. Das Kaffee, wo wir hingehen, verträgt das Tränenmeer sehr gut. Kommen Sie. Ich bin übrigens der Peter.“ Er reichte ihr die Hand. Dabei lächelte er so warmherzig, dass Emma Zutrauen gewann. Sie hatte zwar keine Ahnung warum, aber sie spürte, dass er ihr nichts Böses wollte. Ohnehin hatte sie nichts zu tun, und außer Bilder von längst vergangenen Zeiten, erwartete sie niemanden in ihrem Appartement.
Als sie das Kaffee betrat, blieb sie verwundert stehen. Es ging nicht laut zu, gesprochen wurde fast nur im Flüsterton. Auf den Tischen standen Tassen, Kaffeekannen und Gebäck. Sie wand sich fragend zu ihrem Begleiter.
„Das ist ein Trauerkaffee. Hier finden alle ein offenes Ohr. Setzen Sie sich ruhig. Ich besorge Ihnen etwas zu trinken.“
„Woher wussten Sie….“
„Sie sind mir in letzter Zeit aufgefallen. Euer Blick war gesenkt, den Gruß, den ich Ihnen gab, haben Sie nicht gehört. Und stets hatten Sie eine Blume, manchmal ein Teddy, und oft ein Grablicht in der Hand. Sie müssen nicht reden, aber wenn Sie bereit sind, suchen Sie sich jemanden aus.“
„Emma.“
„Schöner Name. Kaffee, oder Kakao?“
„Kakao, bitte. Warum tun Sie das?“
„Peter, und du. Ich habe meinen Sohn verloren. Mit achtzehn hat sich Thomas vor einem Zug geworfen. Ich bin durch die Hölle gegangen. Seither betreue ich Menschen, die trauern. Sie werden hier, die unterschiedlichsten Geschichten hören, aber alle haben eine Gemeinsamkeit, das Bedürfnis Trost und Erleichterung zu finden.“
Emma nahm sich ein Croissant, und hörte in die Menschenmenge hinein. Sie wusste, hier würde sie reden. Vielleicht mit Peter, oder der Dame, die in einer Ecke saß, und öfter ihr Taschentuch, als ihre Tasse zur Hand nahm. Endlich hatte die trauernde Mutter einen Platz der Besinnung gefunden.
(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)
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