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Türchen 01 "Handschuhe"


Gewalt ohne Halt

Grabesstille herrscht über den Weihnachtsmarkt. Absperrbänder verunzieren die christlichen Ausschmückungen, Menschenfotos schmücken den Weihnachtsbaum in der Mitte des Platzes. Unter ihnen ist das meiner achtzehnjährigen Tochter. Älter wird sie nicht werden. Sie ist tot. Ermordet. Weil Terroristen wahllos um sich geschossen haben. Es war egal, wen sie trafen. Ob es ein Jude, ein Christ, ein Moslem, ein Kind, eine Frau, ein Mann war, das zählte nicht. Hauptsache Angst und Schrecken verbreiten.

Heute stehen alle still, wie erstarrt vor dem Unfassbaren. Nur eine Frau im Tschador geht nach vorne, will ein Foto aufhängen. Jemand schubst sie unsanft. „Geh weg, es sind deine Leute, die unsere Liebsten getötet haben.“
„Mein Kind ist…“
Das letzte Wort geht in einem Schluchzer unter. Das Foto zeigt ein kleines Kind mit einem Plüschtier im Arm. Ich sehe die Tränen in den Augen der Frau, wünsche mich woanders. Aber ich kann das nicht. Leid gebärt Leid. Bis einer aufsteht und Stopp sagt. Doch niemand regt sich. Alle bleiben erstarrt, fixieren den Baum. Es ist, als ob der Zwischenfall hinter einem dunklen Vorhang stattfände und nicht vor aller Augen. Etwas muss geschehen. Sonst haben die Terroristen gewonnen. Die Saat des Hasses darf nicht aufgehen. Ich ziehe meine Handschuhe aus und reiche der Dame die Hand. „Sie ist eine Trauernde wie wir, keine Terroristin.“
Betroffen geht der Schubser in die Hocke und entschuldigt sich. Er hilft der Frau auf. Wir falten alle unsere Hände zum Gebet.
Die Bitte ist für alle gleich: „Beende die sinnlose Gewalt.“

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 

 


 

 

Kindergeburtstag

 

Margit hat im Winter Geburtstag, was sie doof findet, da sie selten mit ihren Gästen nach draußen kann. Damit es trotzdem ein gelungenes Fest wird, lässt sich ihre Mutter jedes Jahr lustige Spiele einfallen.

 Auf dem Frühstückstisch steht ein Geburtstagskerzenkranz, in dessen Mitte die große Lebenskerze leuchtet. Sie holt tief Luft und pustet alle Lichter auf einmal aus, wobei sie sich etwas wünscht.

 

Um zwei kommen die Gäste und Margit packt ihre Geschenke aus. Es gibt Kakao und Geburtstagstorte, dann beginnen die Spiele. Die Favoriten sind Topfschlagen und Dosenwerfen. Neu dieses Jahr ist der Krabbelsack. Das heißt, die Gewinne sind nicht klar definiert, sondern dürfen in der Reihenfolge der Sieger und Platzierten blind aus dem großen Jutesack gekrabbelt werden. Das erhöht die Chancengleichheit und beugt dem Neid unter den Spielrivalen vor.

 

Die Mutter weiß, wie gerne ihre Tochter draußen spielt, und hat sich eine Überraschung ausgedacht. Auf dem Balkon, der die Längsseite des Hauses einnimmt, hat sie eine große Leine gespannt, an der vier Paar Handschuhe aller Art hängen. Sie sind kunterbunt angeordnet: Fäustlinge, Lederhandschuhe, Reithandschuhe und bunte Fingerhandschuhe. Mithilfe einer Vorrichtung kann die Aufhängung mit einem Ruck auf ganzer Länge nach oben gezogen werden. Nun stellen sich die Mitspieler in einer Reihe darunter auf und versuchen, sich einen davon zu schnappen. Sie kreischen und hüpfen wie wild auf und ab. Bald hält jeder eine Trophäe in der Hand. Das Kind mit dem passenden zweiten Handschuh ist der Partner für das Ratespiel, das wieder in der warmen Stube stattfindet.

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


Paul und sein Crêpe

Pauls Augen leuchten mit den Lichtern am Christkindlmarkt um die Wette, als er den Crêpestand sieht. „Mama komm, schneller, hier vorne.“ Er zieht mit seiner kleinen Hand seine Mutter mit.
„Langsamer, ich komme gar nicht mehr mit“. Sie lacht und läuft mit.
Vor dem Stand steht ein Mädchen, dass ihre Waffel bekommt.
„Was möchtet ihr“, wendet sich die Marktfrau an die Beiden.
„Wir bekommen ein Crêpe.“ Paul sieht, wie die Frau mit der weißen Schürze, einen Löffel Teig auf die Platte kippt und mit einem Holzstab verteilt.
„Was möchtest du in deinem Crêpe haben?“, fragt ihm die Frau.
„Mama, darf ich Nutella?“
Sie nickt.
Paul strahlt sie dankbar an und dreht sich zur Marktfrau. „Einen Nutella Crêpe bitte.“
„Gerne, meine Kinder haben auch Nutella geliebt.“ Sie macht das Glas auf.
Er klatscht vor Vorfreude in die Hände. „Sieht das lecker aus.“
„Aber bevor du dir den Crêpe nimmst, musst du dir noch die Handschuhe ausziehen. Sonst sind sie voll Nutella.“
Paul zerrt an seinen Handschuhen und steckt sie ein.
„Kleiner Mann, dein Crêpe für dich. Lass es dir schmecken.“ Sie gibt ihm über die Holztheke den Crêpe.
„Danke“, er dreht sich um und sieht seine Mama an. „Ist der heiß. Ich kann den nicht halten. Kann ich meine Handschuhe doch anziehen?“
„Na gut, aber pass auf, dass sie nicht dreckig werden. Gib mir deinen Crêpe. Ich halte ihn.“
„Aber nicht abbeißen.“ Flott zieht Paul seine Handschuhe an und schnappt sich den Crêpe und beißt genüsslich hinein.

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 

 


Die Abenteurerin

„Aber Kindchen, was machst du denn hier? Bist du etwa ganz allein unterwegs?“ Elsa musterte das Mädchen über den Rand ihrer Brille hinweg. Die Kleine war höchstens neun Jahre alt und hockte zu dieser späten Stunde ohne Begleitung an der Bushaltestelle.
„Ich bin auf Abenteuerreise“, murmelte das Kind und schaute sie misstrauisch an, als ob es befürchtete, dafür ausgelacht zu werden. Nichts lag Elsa ferner, denn Abenteuer sind immer eine gute Sache, wenn auch nicht unbedingt in einer frostigen Dezembernacht.
„Und du hast nicht einmal deine Handschuhe mitgenonnen?“ Elsa zog ihre eigenen umständlich aus und nahm die eiskalten Händchen in ihre warmen Hände.
Die Kleine schüttelte den Kopf. „Mein Bruder hat gesagt, dass Mädchen keine Abenteuer erleben dürfen. Da bin ich so schnell losgelaufen, dass ich sie vergessen habe.“
„Aha, und warum keine Abenteuer für Mädchen?“, wunderte sich Elsa.
„Weil Mädchen das eben nicht dürfen.“
„Oh“, sagte die ehemalige Forschungsreisende und erinnerte sich, dass früher jeder so einen Unsinn erzählt hatte. „Ich dachte, diese Zeiten sind längst vorbei.“ Sie lächelte. „Wie heißt du eigentlich?“
„Elsa“, antwortete die Kleine und sah überrascht auf, als Elsa laut auflachte.
„Ja, dann ist alles klar. Mit diesem Namen musst du selbstverständlich auf Abenteuersuche gehen - später.  Komm, wir schnappen uns jetzt ein Taxi, damit du schnell wieder nach Hause kommst. Und unterwegs erzähle ich dir, was für großartige Abenteuer man als Mädchen auf dieser Welt so erleben kann. Selbst in Eis und Schnee, aber dazu muss man besser ausgerüstet sein, weißt du?“

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 


Der Handschuh

„Denkst du an den Handschuh, Täubchen?“ Gisela lächelte, als sie Bernds Voicemail abhörte. Es tat gut, seine Stimme zu hören. „Ich habe meinen auch dabei.“ Er lachte auf. „Ich freue mich so auf dich.“
Sie steckte das Handy in die Manteltasche und tastete nach dem Handschuh. Er fühlte sich rau und verfilzt an, so oft hatte sie ihn in den Händen gehalten.

Bernd hatte ihn ihr hingeworfen, kurz nachdem er ihr seinen Seitensprung gebeichtet hatte. Gisela wollte sich trennen, aber das hatte Bernd nicht hingenommen.
„Bevor du das Handtuch schmeißt, schmeiße ich meinen Handschuh.“ Er hatte verzweifelt geklungen. „Ich bin ein Mistkerl und habe es nicht verdient, aber ich liebe dich und fordere dich heraus, um unsere Ehe zu kämpfen. Nimmst du an?“
Gisela hatte weglaufen wollen, aber sie liebte Bernd. Also hatte sie den Handschuh schließlich aufgehoben.
„Gib ihn mir zurück, wenn du mir verziehen hast.“
Sein Ausrutscher hatte sie aufgerüttelt. Jahrelang hatten sie nebeneinander hergelebt und aufgehört, sich umeinander zu bemühen. Es war ein schmerzhafter Prozess gewesen, aber sie hatten sich neu kennen- und lieben gelernt.

Gisela war hier, um ihm den Handschuh zu bringen. „Ich wollte ihn dir vor zwei Jahren geben, bei dem Treffen“, ihre Stimme bebte, „zu dem es nicht mehr kam, weil du vorher gegangen bist.“ Tränen tropften auf die Wolle. „Ich weiß, es war nicht deine Entscheidung, mich allein zu lassen, aber das konnte ich dir lange nicht verzeihen.“ Sie legte den Handschuh auf seinen Grabstein. „Jetzt kannst du ihn wiederhaben.“

 

 © 2020 Katja Kobusch (Hamburg)

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Elke Heinze (Dienstag, 01 Dezember 2020 16:22)

    Danke an Lucy für das erste Türchen und diese berührende Geschichte. Und danke, liebe Anathea, dass du dieser Geschichte Raum gibst.
    Herzliche Grüße - Elke