Der selbstgemachte Adventskalender
Freudestrahlend stürmte Ute in die kleine Wohnung ihrer Oma. In ihrem Zimmer blieb sie abrupt stehen. Da hing er, direkt vor ihr an der Wand. Der diesjährige selbst gebastelte
Adventskalender.
„Ein Uhrenkalender!“
„Gefällt er dir?“ Oma Lene freute sich über die gelungene Überraschung. „Am besten erkläre ich dir, wie er funktioniert. Es ist ein interaktiver Kalender. Der wichtigste Teil ist das Zifferblatt,
weil hier die kleinen Geschenke in den Streichholzschachteln versteckt sind. 24 Stunden für 24 Tage.“
„Warum sind die Schachteln unterschiedlich groß?“, fragt Ute.
„Die Großen markieren die vier Viertel der Stunde. Du findest eine auf der 12/24, der 3/15 ...“
„Der 6 und 18 und der 9 und 21!“, rief Ute und drehte sich im Kreis.
„Richtig! Und die kleinen Schachteln dazwischen zeigen die 5-Minuten-Schritte und die Stunden an. Aber: Du wirst sie nicht der Reihe nach aufmachen. Siehst du die Uhrzeit in Worten da auf der
Tafel? Deine Aufgabe besteht darin, die Uhrzeiger am Kalender korrekt einzustellen, und erst dann darfst du das Kästchen mit der jeweiligen Zahl öffnen.“ Ute schaute ihre Oma verwirrt an.
„Wir machen es heute zu Anfang zusammen.“
Da stand ‚Viertel nach neun abends‘ auf der Tafel und Ute stellte den kleinen Zeiger auf die 21. Dann zählten sie gemeinsam von der 12 ausgehend die Viertelstunde ab und platzierten den großen
Zeiger auf der 3.
„Jetzt darf ich das Kästchen mit der 21 öffnen“, kombiniert Ute und freut sich über den Schokoriegel.
„Genau! Und nebenbei lernst du noch die Uhr.“
© 2020 Flora MC (Alsace)
Der Engel
Thea steht in der Menschenmenge zwischen dem Maronistand und der Buden mit den Schneekugeln am Christkindlmarkt. Der Geruch von Glühwein und Bratwurst steigt in ihre Nase. Aus den Lautsprechern
links und rechts beim Rathaus schallt ein blechernes „Oh, du fröhliche“ auf sie herab. Es ist 17:58. Gleich ist es soweit. Sie sucht sich ein Platz hinter der letzten Bude, wo sie von den
Verkäufern nicht gesehen wird. Sie sieht eine Frau neben sich, die ihr in Handy in die Tasche legt, ohne diese zu schließen. Wenige Schritte von ihr entfernt am Maronistand steckt ein
grauhaariger Mann die Geldbörse in seine rechts Manteltasche.
Die Musik verstummt. Ein Kratzen und Klopfen ist aus den Lautsprechern zu hören. Die Lichter am Rathaus erloschen. „Sehr geehrte Besucher und Besucherinnen! Es freut uns sie zu unserem
Adventskalender am Christkindlmarkt willkommen heißen zu dürfen!“, erklingt eine weibliche Stimme.
Die Besucher um Thea herum sehen gespannt auf das Rathaus. Die Glocken läuten. Es ist 18:00. Rechts oben am Rathaus öffnen zwei Männer in Uniform mit langen Stäben die Holzklappen bei dem runden
Fenster. Ein Raunen geht durch die Menge.
Thea greift in die Tasche der Frau, schnappt die Geldbörse aus der Jacke des Mannes. Sie blickt sich um, schreitet zügig den Weg zwischen den Buden durch und will den Platz verlassen.
Die Besucher klatschen. Thea dreht sich zum Rathaus um und sieht den erleuchteten Engel im Fenster, der ihr direkt in die Augen blickt. „Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders“, murmelt
Thea.
© 2020 Sandra Novak (Wien)
Abenteuerlich
„Hey, es ist Adventskalender-Time!“ Bea schwenkte einen bunten Kalender und grinste, als begeisterte ‚Ahs‘ und ‚Ohs‘ erklangen. „Seid ihr bereit für die ultimative Challenge?“
„Ein Wettbewerb im Vertilgen von Schoki; ich bin dabei“, rief Mandy und streckte Bea beide Hände entgegen.
Diese schüttelte den Kopf. „Nee, ist doch langweilig. Es wird dringend Zeit, dass wir etwas Neues ausprobieren.“
Marie rümpfte die Nase. „Gar nichts Süßes?“
„Es wird ein echtes Abenteuer.“ Bea machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Hinter jeder Zahl eine neue Herausforderung. Seid ihr dabei?“ Die Begeisterung der Freundinnen hielt sich in Grenzen, also
ging sie mit gutem Beispiel voran.
„Türchen Nummer Eins: Lass alles stehen und liegen. Geh jetzt aus dem Haus und küsse den ersten Mann, der dir über den Weg läuft.“ Sie grinste leicht gequält. „Ist vielleicht doch keine
gute Idee.“
„Mir gefällt’s. Wo doch hier im Flur immer dieser grässliche Hausmeister rumlungert.“ Marie kicherte und Mandy hakte sich bei Bea ein, um diese trotz Protestgejammer aus der Wohnung zu ziehen.
Am Türrahmen festgeklammert nickte Bea der Nachbarin beruhigend zu. „Grüß dich, Sabine. Alles okay, ist nur ein Spiel.“
Diese schüttelte den Kopf, schob ihren Sohn beiseite, um die Wohnungstür zu öffnen.
„Alex!“ Bea riss sich los und stürzte sich auf den Nachbarsjungen, um ihm einen dicken Schmatzer aufzudrücken. „Du bist meine Rettung, mein Held.“
„Also wirklich!“ Resolut schob die Nachbarin den heftig erröteten Teenager in die rettende Wohnung. „Durchgeknallte Weiber!“
„Okay“, schnurrte Bea. „Wer von euch meldet sich freiwillig, um morgen das zweite Türchen zu öffnen?“
© 2020 Anathea Westen (Lipperland)
Mordvorbereitungen
Ich liebe Gift. Es ist sauber und ohne Gewalt. Perfekt, um einen Menschen um die Ecke zu bringen. Ich greife nach dem Pilzführer. Soll ich den üblichen Fliegenpilz nehmen? Oder doch lieber den
orangefuchsiger Raukopf? Vierzehn Tage bevor der Tod eintritt. Ha, das ist die Idee. Rasch mache ich mir eine Notiz. Das wäre der Mord Nummer eins. Für meinen ehemaligen Arbeitgeber, der mich
mobbte, ist das perfekt. Er soll leiden. So wie ich unter seiner Despotie gelitten habe. Noch dreiundzwanzig Türen. Wie wäre es mit dem Fingerhut? Auch gut. Ich blättere in dem Pflanzenführer.
Mein Blick fällt auf die Herbstzeitlose. Ihr Gift ähnelt dem Arsen und wirkt bereits in kleinen Mengen tödlich. Obendrein ist das im eigenen Garten anzutreffen. Sehr gut. Mord Nummer zwei. Wer
wird mein Opfer? Vielleicht der frühere Kollege, aus meiner Lehrzeit, dessen Blick sich öfter auf meinen Busen, als auf die Kundschaft, wanderte. Noch zweiundzwanzig Tote. Wozu eine Waffe kaufen?
Die Natur schenkt einem alles, und das Leben stellt die Opfer zur Verfügung. Ich nehme mein Tagebuch zur Hand. Da werden sich genug Kandidaten finden. Motiv, Tatwaffe, Opfer. Alles da. Fehlt nur
noch ein Detail. Das ist schwieriger zu lösen. Ich grübele hin und her.
Ein leises Fiepen reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich drehe mich um. Zwei einsame Fellnasen starren mich vorwurfsvoll an.
„Frauchen will ihren Krimi Adventskalender zu Ende vorbereiten. Brauche...“, ihr kluger Blick inspiriert mich. „...Spürnasen. Ihr werdet die Fälle lösen.“
Beide Hunde wedeln mit den Ruten. Das bedeutet wohl ja.
© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)
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