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Türchen 12 "Mistelzweig"


Der Antrittsbesuch

Saskia schließt die Tür im Elternhaus auf. „Hallo, wo seid ihr? Wir sind da.“
„Wir sind im Wohnzimmer, kommt herein“ ruft eine Frauenstimme.
„Machen wir Mama“, schreit sie zurück.
Georg bleibt wie versteinert stehen. Saskia nimmt seine Hand und zieht ihm mit. „Meine Familie beißt nicht.“
Er lächelt gezwungen.
Die Tür springt auf: „Hallo mein Schatz, wo bleibt ihr denn. Hallo Georg, es freut mich, dass wir dich endlich  kennenlernen.“
„Hallo Frau Suban. Es freut mich auch.“ Er reicht ihr den Winterstern. „Hier für Sie eine Kleinigkeit. Saskia meinte, sie lieben Blumen.“
„Vielen Dank, sind die schön. Nenn mich aber Margit wie alle anderen auch. Jetzt kommt herein und steht nicht angewurzelt da.“
Sie betreten das Wohnzimmer.
„Bleibt stehen!“, kommt es resolut von der Großmutter auf der Couch.
Erschrocken blickt Georg zur Couch, wo die Großmutter und der Vater von Saskia sitzen.
„Habt ihr denn den Mistelzweig nicht gesehen. Ihr wisst schon, was das bedeutet?“ Oma blickt sie herausfordernd an.
Georg sieht Saskia fragend an. Sie drückt aufmunternd seine Hand und zieht ihm mit sich.
„Ihr jungen Leute. Habt echt keinen Respekt.“
„Es reicht Mutter. Lass die Beiden in Ruhe.“ Er sieht seine Mutter mit einem eindringlichen Blick an. „Hallo, ich bin Oliver. Saskia’s Vater. Georg, es freut mich dich kennenzulernen.“
Zögernd reicht Georg ihm die Hand. „Es freut mich auch, ihre Famile kennenzulernen.“
„Nur Mut mein Junge. Ich habe das vor fast 40 Jahren auch überstanden“, meint Margit zu Georg und lächelt ihre Schwiegermutter an.

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 

 


Tödliche Schönheit

Ihre weiche Haut, der zarte Duft, der sie umgab, aber vor allem ihre Küsse, sanft und fordernd zugleich, berauschten ihn. Wieder war der Zeitpunkt, an dem er sich von ihr trennen musste, viel zu schnell gekommen.
„Heute mag ich dich nicht loslassen. Caireann, meine Teure, komm mit mir, damit alle sehen, welch einen Schatz ich gefunden habe.“
„Wirklich?“ Ihre Finger glitten sanft durch sein Haar. „Du bist der Prinz meines Herzens, Bréanainn, aber nicht alle schätzen meinesgleichen.“
„Was scheren uns andere“, rief er aus. „Nur unsere Liebe zählt.“

Er nahm Caireann auf den Arm, um sie wie eine Braut über die Schwelle zu tragen.
„Du bist sicher? Du lädst mich ein in dein Haus?“ Ihre Augen, den seinen so nah, bargen die Tiefen aller Welten in sich.
„Natürlich, ich ...“ Erschrocken schrie er auf, als sich das bezaubernde Antlitz vor ihm in eine bösartige Fratze verwandelte. Das Wesen wand sich aus seinen Armen, trat ein paar Schritte zurück und fauchte ihn an.
„Lügner, Scheusal! Wie kannst du es wagen?“ Seine Geliebte stand im Licht des Vollmondes und starrte ihn vorwurfsvoll an. „Mir war es ernst mit unserer Liebe, doch du hast sie verraten.“ Sie verschwand und ward nie wieder gesehen.

 Bréanainns Mutter trat zu ihm und deutete auf den Strauß aus Mistelzweigen über der Tür. „Die Mistel schützt nicht nur vor Feuer, sondern auch vor diesen dämonischen Elfen, die du einlassen wolltest.“
Caireann war gegangen, doch nie wieder konnte eine Frau das Herz des Bréanainn für sich gewinnen.

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 

 


Extra Pudding

Das durfte nicht wahr sein! So sehr ich mir die Augen rieb, mein Schokopudding war fort. Dabei hatte ich in roten Lettern meinen Namen darauf geschrieben. Jetzt reichte es mir aber langsam! Jeden Tag dasselbe Theater! Irgendwer im Team meinte, dass das Essen der anderen Mitarbeiter für ihn bestimmt sei. Wenn man nur wüsste, wer! Mal fehlte eine Coladose oder ein Sandwich, aber oft war es ein Dessert. Ich ballte die Fäuste. Na warte Freundchen!
Auf dem Nachhauseweg schmiedete ich einen Racheplan. Der würde husten! Und wie! An der Tankstelle ging ich Pudding mit wieder verschließbarem Deckel kaufen. Frech grinsend amüsierte ich mich daheim, die zwei Puddings zu öffnen und den Plastiküberzug abzunehmen. Dann streute ich kleine, weiße Schokopralinen darin und schloss sie wieder. Ich weihte meinen Mann im Plan ein.

Am folgenden Tag läutete mein Telefon, kaum, dass ich die Kantine betrat. „Ja, Schatz? Was? Die Beeren vom Mistelzweig? Geht es der Kleinen gut?“
„Was ist?“, fragte mein Nachbar.
„Meine Tochter hat“, ich eilte zum Kühlschrank, „Hexe gespielt und im Pudding Mistelbeeren reingetan. Die sind hochgiftig. Oh nein, meine Puddings sind weg. Wir müssen allen Bescheid geben. Wer auch immer der Dieb ist, er ist in Gefahr.“
In dem Moment begann Herbert zu spucken.
„Gute Neuigkeit, das war ein Trick.“
Fest sah ich ihn an. Er senkte beschämt den Kopf.

Am nächsten Tag verteilte Herbert Weihnachtsgebäck mit Entschuldigungskärtchen. Auf meiner stand: „Garantiert mistelfrei. Ich hole mir Hilfe, um von diesem Zwang zu stehlen, loszukommen. Danke fürs Aufrütteln!“

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 


Die Magie der Mistel

Eine so innige Liebe, dass du glaubst, ohne den anderen kein Ganzes mehr zu sein, findet man selten.
Verstohlen wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel, während ich mit meiner Enkelin durch den Wald stapfe. Die Bäume tragen weiße Hauben und man sieht Misteln darunter hervorspitzeln. Luzie schaut mich an und drückt meine Hand.
„Ich vermisse Opa auch. Weihnachten ist es immer am schlimmsten.“
„Habe ich dir je erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?“ Es war eine rhetorische Frage, denn es war stets unser süßes Geheimnis.
 
„Es war Anfang Dezember und es hatte frisch geschneit. Ich suchte nach einer besonders großen Mistel. Am Wegrand fand ich einen Baum, der leicht zu erklettern war und der an einem seiner vorderen Äste, die über den Weg ragten, einen Mistelbusch trug. In jungen Jahren war ich geschickt im Klettern und saß bald auf besagtem Ast.

Beim Sägen verhakte sich jedoch das Werkzeug im feuchten Holz. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Weg. Ein Mann, der mit seinem Dackel spazieren ging, sah den Sturz und eilte herbei. Ich hatte Glück, dass nur mein Bein gebrochen war. Bis die Rettung kam, hielt er mich tröstend in seinem Arm. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er küsste mich und ich schaute nach oben. Der angesägte Mistelzweig hing direkt über unseren Köpfen.“

Luzie schaut in den Baum über uns, auf dem auch Misteln wachsen und grinst.
„Denk nicht mal dran“, sage ich und lächele. „Liebe kann man nicht zwingen.“

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


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