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Türchen 14 "Postkarte"


Goldmündchen

 

„lieber papa, ich wünsche mir vom weinachtsmann das du kommst. dein goldmunzchen.“
Marcuccio steckte die Postkarte, die er am Morgen aus dem Stapel ausgehender Briefe raussortiert hatte, in die Manteltasche und machte sich auf den Heimweg. Eine Briefmarke hätte er wohl selbst draufkleben können, aber an welchen der vielen Väter, die in der Welt verstreut das Brot für ihre Familien verdienten, sollte die Nachricht gehen? Und von wem? Seit das Kinder-Singfestival „Die Goldmünze“ den Ehrgeiz der Mütter Italiens geweckt hatte, war das Dorf voller „Goldmünzchen“, die, auf Küchentische hochgehievt, für den ersehnten Fernsehauftritt und die Goldmünze, die es zu gewinnen gab, ihre Kehlchen trainierten.
„Du machst es mir nicht leicht, Goldmünzchen“.

 

Marcuccio schlenderte mit gesenktem Kopf die Straße entlang und stieß prompt mit Don Geremia zusammen, der ihm, dick eingepackt, von der Piazza entgegenkam.
„Marcuccio! So grüblerisch an diesem sternenklaren Abend?“ Don Geremia lachte und hakte sich beim Briefträger ein. „Gehen wir ein paar Schritte, bevor der Schnee kommt und wir uns hier die Beine brechen.“
Marcuccio und der Dorfpfarrer berieten sich lange in der Sache und trugen ihren Plan dann dem Bürgermeister vor. Enzo, Marcuccios unbegnadeter Sängerknabe, und seine Schwestern, Goldmünzchen Anna und Filomena, bekamen eine wichtige Aufgabe. Sie übertrugen den Weihnachtswunsch mit wackeliger Kinderhand auf über dreihundert Postkarten, die der begeisterte Bürgermeister an alle ausgewanderten Männer des Dorfes verschicken ließ.


Die Rückkehrer waren zahlreicher denn je und zur Freude aller Mütter instituierte Don Geremia in diesem schneereichen Jahr 1965 ein eigenes Kinder-Singfestival, das seitdem Tradition ist: „Goldmündchen“.

 

© 2020 Lucia Gentilcore (Bonn)

 


Der eigene Weg

Inge zwang den nächsten Bissen hinunter, obwohl ihr der Appetit längst vergangen war. Es war wohl zu viel verlangt gewesen, mit Verständnis oder gar Freude zu rechnen.
„Ich finde das unverantwortlich!“ Ihr Sohn Frederik erstach ein Stück Kartoffel, schob es in den Mund, um es zu zermalmen. „Und das in deinem Alter“, fügte er uncharmant hinzu.
„Finde ich auch“, mischte sich seine Frau Lea ein. „Du solltest dich schonen. Und du willst doch bestimmt auch etwas von deinen Enkelkindern haben. Das geht ja nicht, wenn du dich herumtreibst.“
Womit du meinst, dass ich den Babysitter zu spielen habe, damit ihr beiden abends weiterhin ausgehen könnt. Das Essen hatte inzwischen gar keinen Geschmack mehr, so bitter stieß ihr dieses selbstsüchtige Verhalten auf.
„Ich habe meinen Beruf aufgegeben, um mich um die Kinder zu kümmern. Eigentlich unnötig, aber Familie und Umfeld meinten damals, dass nur Rabennütter arbeiten gehen.“ Sie hob die Hand, als ihre Schwiegertochter den Mund öffnete. „Heute ist das anders, du gehst ins Büro und niemand macht dir einen Vorwurf. Da ist ja die Oma, die auf die Kleinen aufpasst.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe lange genug für andere gelebt. Ihr müsst in Zukunft allein zurechtkommen.“

Zum Jahreswechsel erhielt die Familie eine Postkarte mit einer tief verschneiten Winterlandschaft auf der Vorderseite.
Ihr Lieben, das Leben ist großartig, wenn man sich endlich entschieden hat, den eigenen Weg zu gehen. Wünsche euch ein schönes Fest und den Mut, es irgendwann selbst einmal zu versuchen. Eure Mutti / Oma

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 

 


Botschaft aus der Vergangenheit

An einem frühen Morgen brachte das Meer Nachricht aus einer längt vergangenen und geheimnisvollen Zeit an Land. Verwundert hob der zwölfjährige Fructus die Flasche auf. Neugierig nahm er den Inhalt nicht, bevor er sich zweimal umgesehen hatte, ob, wer ihn beobachtete, heraus. Seltsam! Die Landschaft war weiß, am Himmel zog ein von Rentieren gezogener Schlitten. Fructus wand die Karte. „Meine Liebste, ich kann dir nicht sagen, wo ich bin. Nur, dass ich diese Weihnacht nicht bei dir sein werde. Ich bewahre diese Karte in einer Flasche. Sollte unser Boot getroffen werden, werde ich dir diese Wünsche zusenden können. Meine Gebete sind bei dir. Bitte, tu etwas für mich: Bete für meine Rückkehr und dass die Nazis den Krieg verlieren.“
Was hatte das zu bedeuten? Krieg verstand Fructus. Das waren jene barbarischen Kämpfe der Zivilisationen vor der Stunde null. Aber Nazis? Weihnachten? Damit konnte er nichts anfangen. Was hatte das Bild vorne eine geheime Botschaft? Darauf konnte nur die alte Weise antworten. Die Hundertjährige war eine der letzten Überlebenden der Vorzeit.

Aber die alte Weise erschrak auf das Heftigste, als sie die Karte berührte. „Wirf sie ins Feuer!“
„Warum?“
„Weil es zu einem der einstigen Kulte, die so viel Tod brachten, gehört. Das darf nicht wieder geschehen!“
Fructus nickte. Zu Hause angekommen versteckte er die Karte. Das Rätsel würde er lösen. Auch ohne genaue Kenntnisse der Zeit vor dem großen Vulkanausbruch. Er spürte, dass da mehr als nur unendliches Leid war. Warum verheimlichten die Erwachsenen die Wahrheit?

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 


Grüße aus der Vergangenheit

Jetzt steht es endgültig fest. Das alte Postamt wird noch vor Weihnachten abgerissen. Wir haben die Erlaubnis, uns darin umzusehen. Insbesondere sind wir am Holz interessiert, das in dem antiken Gebäude reichlich zu finden ist. Uwe hebelt die Bodenbretter aus und ich mache mich an der dunklen Wandverkleidung aus Eiche zu schaffen.
 
„Uwe, komm und hilf mir, das schwere Schrankregal von der Wand zu rücken.“ Er lässt das Brecheisen fallen und kommt zu mir rüber.
„Wow! Da wurden sicher die Briefe einsortiert.“
Gemeinsam hieven wir es nach vorne. Ein Stück Papier erregt meine Aufmerksamkeit. Es entpuppt sich als Briefumschlag, der eine Karte enthält. Der vergilbten Farbe nach zu urteilen, steckt er da schon länger. Die verblasste Tinte ist schwer zu entziffern, aber der Poststempel hebt sich deutlich auf der Briefmarke ab. Er trägt das Datum 19.12.1942. Ganze 58 Jahre war dieser Brief hinter dem Regal verborgen!
„An Helene Niederberger, Rathausgasse 24, 6749 Dörrenbach“
Wir schreiben das Jahr 2000, folglich muss die Dame heute 93 Jahre alt sein. Ich finde sie im örtlichen Altersheim.
Sie hält den geöffneten Umschlag mit der Postkarte in der Hand und Tränen kullern über ihre runzligen Wangen. Sie bittet mich, sie vorzulesen.   

Meine Liebe!
Zu Deinem 35. Geburtstag sende ich Dir alles erdenklich Gute. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Dich denke. Wieder ein Weihnachtsfest alleine in Russland. Mach Dir keine Sorgen, in Gedanken bin ich fest bei Dir.
In Liebe, Dein Otto.

„Er kam nicht wieder“, flüstert sie.

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


Der Sekretär

Peter steht vor dem Sekretär aus schwerem Eichenholz von seiner Ehefrau Gabi. Wie viele Stunden hat sie hier verbracht? Ihre Kleidung vom Schlafzimmer, ihre Kosmetikartikel aus dem Badezimmer hat er in graue Müllsäcke gesteckt und in den Keller verbannt.
Ihr Sekretär war ihr Heiligtum, wo sie in Gedanken versunken da gesessen, geschrieben und gelesen hat. Bis zu dem Tag vor drei Wochen, wo sie vom Einkaufen nicht zurückkam. Die Polizei klingelte an der Tür und berichtete ihm vom Unfall.
Er setzt sich auf den Stuhl und fährt behutsam mit seiner Hand über die glatte Oberfläche des Holzes. Nie hat er sich in all den Jahren hier hingesetzt. Das war Gabi’s Reich. Zögerlich umfasst er den Griff der Schublade, stockt und zieht sie langsam heraus. Der blaue Notizblock und der Stift mit ihrem Namenszug liegen rechts, mit dem sie ihm kurze Nachrichten hinterließ, wenn sie fortging. Ein Stapel von Fotos und Karten ist nach hinten gerutscht. Er atmet tief durch, wie er das Foto von Gabi und sich bei der Golden Hochzeit aus diesem Sommer sieht.
Er nimmt den Stapel mit Fotos zu sich. Es fällt eine Postkarte mit einer Schneelandschaft auf den Boden. Er hebt sie auf und dreht sie um und erkennt seine eigene Schrift: „Liebe Gabi, diese Weihnachten kann ich nicht bei dir sein, da ich Dienst habe. Im Gedanken bin ich bei dir...“ Peter nimmt seine Brille ab und wischt mit dem Handrücken über seine Augen: „Ich bin auch dieses Jahr zu Weihnachten bei dir.“

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 


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