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Türchen 18 "Schlitten"


Gefilterte Erinnerung

„Unglaublich“, murmelte Melanie, während sie in der Heimatzeitung stöberte, die ihre Großmutter zweimal im Jahr erhielt. „Davon hast du nie erzählt.“
„Was denn? Stimmt ja nicht alles, was die Leute da schreiben.“
„Oma, ich bitte dich. Die beschreiben ihren kilometerlangen Weg zur Schule durch Schneeverwehungen. Die Schultaschen wurden auf dem Schlitten hinterhergezogen. Sowas denkt sich doch keiner aus. Außerdem steht hier, dass der strenge Frost in Verbindung mit dem Ostwind oft zu Erfrierungen führte.“ Melanie schüttelte unwillig den Kopf. „Du hast uns wieder deine besonderen Geschichten erzählt.“

 

Sie nahm es ihrer Großmutter übel, dass diese die alte Heimat Ostpreußen stets als Paradies auf Erden geschildert hatte. Erst später waren ihr die Widersprüche aufgefallen. In der gesamten Region existierte keine einzige Raupe, weil sich ihre Oma vor Gewürm ekelte, aber Schmetterlinge gab es dafür in rauen Mengen. Schon klar!

„Die Geschwister machten nach dem morgendlichen Marsch total durchgefroren im Ort bei einer Verwandten Halt“, las sie vor. „Diese gab ihnen ein Glas warme Milch und trockene Kleidung, damit sie überhaupt in der Lage waren, am Schulunterricht teilzunehmen. Puh, die hatten sogar mehrere Handschuhe übereinander an!“
„Ich habe auf dem Schulweg nie Handschuhe getragen!“
„Also das ist wieder faustdick geschwindelt“, brauste Melanie auf, doch ihre Großmutter sah sie nur von oben herab an.
„Ich bin jeden Morgen mit dem Pferdeschlitten zur Schule gebracht worden.“


Was nur möglich war, weil die Cousine aus wohlhabender Kaufmannsfamilie in dieselbe Klasse ging und man sie aus Freundlichkeit mitnahm. Aber das erfuhr Melanie erst später.

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 


Auf der Suche nach Frau Holle

Es war einmal ein kleines Mädchen, das gerne Märchen las. Tat sie es nicht, so schaute sie sehnsüchtig nach draußen und hoffte auf Schnee, um mit ihrem Schlitten den Hang herabzufahren. Aber der Julmonat war ungewöhnlich warm. Oft schien die Sonne, so auch an diesem dreiundzwanzigsten Dezember. Traurig starrte Marie in den sternenklaren Himmel. Warum schneite es nicht? Das musste einen Grund haben. Nachdenklich blickte Marie auf ihr Märchenbuch. „Das ist es. Frau Holle braucht Hilfe. Pechmarie und Goldmarie sind ja beide weggegangen.“

Am nächsten Morgen schlich sich Marie auf dem Grundstück ihrer Nachbarin, wo ein blumenbestückter Brunnen stand. Als sie näherkam, merkte sie, dass die Öffnung mit Brettern versiegelt war. Mit ihren kleinen Ärmchen zerrte sie daran, doch die Bohlen bewegten sich keinen Millimeter. Erschöpft sank Marie am Brunnenrand und begann laut zu rufen. „Frau Holle, lass mich herunter. Ich will dir helfen, die Decken zu schütten, dass es auf der Welt schneit.“
Sie rief und rief, bis sie heiser wurde. Plötzlich spürte sie, wie jemand ihr einen Schal über die Schulter legte. Marie wand sich um. Neben ihr saß Frau Holle. „Danke Kind. Dein Wille an mich zu glauben, hat gereicht, um meine Kräfte zu wecken. Heute Abend wird dein Wunsch in Erfüllung gehen. Wach auf.“

„Das Fieber sinkt. Ein kleiner Infekt, mehr nicht.“
Marie wand sich unter ihrer Decke. Was machte der
Kinderarzt in ihrem Zimmer? Sie sah durchs Fenster. Dichter Schnee fiel vom Himmel herab. Das war Frau Holles Zauber.

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 


Die Wette

Es war Dezember und frühlingshaft warm, wie so oft die letzten Jahre um die Weihnachtszeit. Schon lange waren die Kinder nicht mehr im Schnee gerodelt.
Im Nachbarort bot sich eine Alternative und so ließen sie sich den Spaß am Schlittenfahren nicht verderben. Es war später Nachmittag und bald würde die Bahn schließen. Auf dem Sessellift, der sie mit den Schlitten stets bequem nach oben brachte, hatten sie eine Wette abgeschlossen. Wer dieses Rennen verlor, musste die letzte Rodelfahrt des Tages zahlen.

Ferdinand und Markus saßen zum siebten Mal an jenem Tag nebeneinander auf ihren Schlitten. Die Ampel wechselte von Rot auf Gelb und blinkte, bevor sie auf Grün umsprang.
„Go!“, schrie Markus, der bisher immer schneller als sein Freund war und stieß sich mit den Händen rechts und links ab.                              Ferdinand kannte die Tricks seines Kumpels und tat es ihm gleich. Er musste dieses Mal einfach gewinnen. So viel Glück konnte nicht einmal Markus haben!

Wie der Wind sausten sie die Sommerrodelbahn hinunter, beide fast gleichauf. Ferdinand, der ein bisschen kleiner war, legte sich auf der Geraden nach hinten, um weniger Luftwiderstand zu bieten, was ihm einen Vorsprung verschaffte.
So schoss er knapp vor seinem Konkurrenten ins Ziel und jubelte. Endlich hatte er gewonnen und dann gleich doppelt, wegen der Wette.

Markus gratulierte gönnerhaft, aber es wurmte ihn, ausgerechnet am Schluss verloren zu haben. Mit hängendem Kopf schlurfte er an die Kasse und zog sein Portemonnaie heraus, doch der Betreiber verkündete, die letzte Fahrt des Tages sei gratis.

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


Der Weihnachtsmann

Lisa spaziert mit den beiden Kindern zwischen den geschmückten und bunt beleuchteten Buden am Wintermarkt durch. Es duftet nach Punsch, Maroni und Bratwurst. Das Riesenrad am Platz wird in lila Farbtönen angestrahlt und die roten Waggons drehen langsam ihre Runden.
Vor dem Riesenrad steht eine Holzhütte. „Mama, was ist da drin“, fragt Emelie.
„Da ist aber jemand neugierig. Möchtet ihr vielleicht den Weihnachtsmann sehen und mit ihm auf seinem Schlitten sitzen“, fragt ein älterer Herr, der vor der Hütte sitzt.
„Ja!“, Emelie nickt. Gerhard strahlt den Mann an.
„Dann kommt mit mir mit.“
Im Holzhaus ist ein Holzschlitten mit Rentieren aufgebaut, wo der Weihnachtsmann sitzt. „Möchtet ihr mal zu mir auf den Schlitten kommen?“
Gerhard umklammert die Hand seiner Mama, während Emelie auf den Schlitten klettert. Der Weihnachtsmann gibt ihr einen Schokoweihnachtsmann. „Möchtest du auch einen haben? Wenn du magst, kann ich ihn auch deiner Mama für dich geben?“
Gerhard steigt auf den Schlitten und greift nach der Schokolade. „Danke, Weihnachtsmann.“
Der ältere Mann vom Eingang kommt herein. „Wollen wir ein Foto von den Kindern und ihnen mit dem Weihnachtsmann machen? Das können Sie auch mitnehmen, wenn Sie wollen.“
„Ja, sehr gerne“, antwortet Mama.
Die Kinder plaudern mit dem Weihnachtsmann.
„Das Foto ist fertig. Hier bitte für Sie.“
„Was bekommen Sie für das Foto?“, fragt Mama.
„Das ist kostenlos. Wir freuen uns, wenn wir den Kindern und ihren Eltern eine Freude machen können. Wenn sie aber für unser Obdachlosenheim eine kleine Spende haben, würden wir uns sehr freuen.“

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 


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