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Türchen 20 "Lebkuchenhaus"


Märchenstunde 2080

Es war einmal vor langer Zeit, als eine Pandemie die Welt heimsuchte. Es wurden Lockdowns verhängt, Geschäfte gingen bankrott und viele litten unter Armut. Kinder waren Luxus und daher entschlossen sich die Eltern von Benedict und Klara, sie wegzubringen.
Die Geschwister streiften stundenlang durch die Fremde, aber alle Ortschaften waren wie ausgestorben, die Geschäfte geschlossen. Sie zogen weiter und der Junge jammerte vor Hunger und Müdigkeit.


„Schau kleiner Bruder, eine Bäckerei!“
 Hoffnungsvoll wischte sich Benedict über die tränenverschmierten Augen. Schon von Weitem sah man die Brezel an der Fassade.
Die Kinder trauten ihren Augen nicht. Im Schaufenster lagen Brote und Gebäck aller Art. Schokolade und bunte Zuckerwaren füllten die Regale und Torten standen in der Theke. Da es Weihnachtszeit war, gab es Tüten voll Plätzchen und neben der Kasse prunkte sogar ein Lebkuchenhaus. An der geöffneten Tür lockte ein Korb mit Pfeffernüssen. Ein Schild lud ein, diese zu probieren. Da griffen die Kinder tüchtig zu.


„Kommt doch herein“, sagte ein alter Mann in einem weißen Kittel und entblößte schneeweiße Zähne. „Was führt denn zwei Naschkatzen, wie euch zu mir?“  Zuerst fürchteten sie sich, aber dann fassten sie Zutrauen.
„Habt ihr Hunger? In der Küche habe ich einen Eintopf aus frischem Gemüse.“
Die Kinder zögerten. Vor allem Benedict konnte seine Augen nicht von dem Naschwerk losreißen.
„Eure Wahl“, sagte der Alte.
Mit verklebten Zähnen und schokoladenverschmierten Lippen, schliefen sie bald glücklich ein.


Am nächsten Tag war der Bäckerladen verschwunden, stattdessen saßen sie in einer Zahnarztpraxis, jeder auf einem Behandlungsstuhl.

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


Das Lebkuchenhaus

Es klingelt an der Tür. Frau Gruber macht die Tür auf und ihre Enkelin Annika läuft in ihre Arme und umarmt sie. „Nicht so stürmisch. Sonst falle ich gleich.“
„Ach Oma. Ich freue mich so. Mama holt mich nach der Arbeit wieder ab.“
„Dann haben wir ja genügend Zeit, um unser Lebenkuchenhaus zu bauen. Habe schon alles vorbereitet. Wasche dir noch die Hände und dann kommst du in die Küche.“
„Oma was machst du da?“
„Einen Kleber aus Eiweiß und Zucker. Damit die Seiten nachher halten. Fertig, wir können loslegen.“
Annika stellt drei Seiten des Hauses zusammen und hält sie krampfhaft mit ihren kleinen Fingern.
„Soll ich dir helfen?“
Annika nickt.
Die Oma gibt eine große Menge von dem Kleber auf die Enden der Lebkuchen und steckt sie zusammen. „Das ist noch ein wenig wackelig. Aber das wird schon. Magst du das Haus verzieren?“
„Oh ja. Mit was denn?“
Die Oma holt eine Schüssel mit Smarties, Gummibärchen und bunten Streusel aus dem Küchenschrank. „Gib immer schön Kleber drauf. Dann halten die Süssigkeiten. Und lass nicht alle in deinen Bauch wandern.“
Annika verteilt mit dem Teelöffel die Eiweißzuckermischung auf den Lebkuchen und klebt die Gummibärchen am Dach fest. Die drei Gummibärchen, die keinen Platz mehr haben, vernascht sie. Sie nimmt eine Handvoll bunter Streusel und lässt sie über das Lebkuchenhaus schneien.
„Fertig“, schreit Annika.
„Ich komm schon.“ Oma kommt in die Küche. „Wie siehst du denn aus? Du bist ja fast so bunt wie das Lebkuchenhaus.“

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 


Knusper-Attacke

„Kaum zu glauben! Schau doch, Omi hatte Recht, es ist komplett aus Lebkuchen!“, rief Rena staunend, während sie um das Häuschen schlich. „Hier kleben Pfefferkuchen an der Wand und warte ...“ Es knusperte. „Wahnsinn, die Fensterumrandung ist aus purem Zuckerguss, hast du schon probiert?“
„Nö“, mampfte ihr Bruder hinter ihr. „Aber die Fensterläden sind aus Spekulatius, lecker.“
„Ich dachte, das ist nur eine ihrer Geschichten.“ Rena kaute eine Mandel und musterte gedankenverloren das verlockende Haus. „Aber wir wurden wohl genau zur richtigen Zeit geboren, um dieses Wunder zu erblicken.“
„Und um ihr etwas mitzubringen“, erinnerte Rumo an das gegebene Versprechen.
„Stimmt, das dürfen wir nicht vergessen. Aber jetzt probieren wir erst einmal all diese Köstlichkeiten. Hey, sind die Blümchen da etwa aus Marzipan?“

„Hast du das gehört?“ Rumo richtete sich kerzengerade auf und lauschte. „Ich glaube, sie kommen. Wir müssen weg!“ Er schnappte sich einen Fensterladen und lief los, doch Rena hatte Probleme mit dem Dachziegel aus feinstem Lebkuchen, der sich nicht lösen wollte.
„Schnell“, rief ihr Bruder. „Sonst wirst du erwischt!“
Rena stemmte sich mit aller Kraft gegen das Haus, bis der Ziegel endlich nachgab. Flugs eilte sie hinter Rumo her.

Licht flammte auf, nahm ihr jede Deckung, und dann hörte sie das Hecheln und Knurren des Hundes. Mit letzter Kraft hechtete sie in die rettende Dunkelheit des Mauselochs neben dem großen Eichenschrank, wo sie bereits erwartet wurde.
„Habe ich es nicht gesagt?“ Oma Maus kaute selig an dem Spekulatius. „Es gibt nichts Köstlicheres als so ein Lebkuchenhaus.“

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 


 Hans und Gretchen


Es geschah an einem sechsten Dezember. Zwei Kinder, Hans und Grete, verschwanden von der Bildfläche, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Niemand der zahlreichen Kunden im Eisenwarenladen hatte irgendetwas beobachtet. Die Angestellten wussten auch nichts. Alles, was Kommissar Thomas Fuchs wusste, war, dass beide Kinder in den frühen Morgenstunden von zu Hause losgezogen waren, um sich eine Eistorte in Form eines Lebkuchenhauses zu kaufen. Seither hatte niemand mehr sie gesehen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.
 
„Herr Kommissar, ich möchte nicht drängen, aber draußen wird es bereits dunkel. Haben sie etwas gefunden?“ Flehend blickte der Vater zu Thomas.
Der schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht. Ich weiß, wie schwierig es ist. Haben Sie nachgedacht?“
„Ja. Unsere Kinder waren Aussätzige. Wer möchte schon mit Kindern, die in Kleidern aus der Altsammlung herumlaufen, befreundet sein? Ich bin arbeitslos und meine Frau hat nie etwas anderes getan, als den Haushalt zu führen.“
„Womit wollten die Kinder diese Eistorte bezahlen? Es ist die teuerste im Sortiment.“
„Ich habe ihnen Geld gegeben.“
Thomas fiel auf, dass der Blick des Vaters Richtung Decke gewandert war. Er hatte gelogen. „Woher hatten Sie dieses Geld?“
„Gespart.“
„Was verschweigen Sie mir?“ Thomas starrte auf die Hände des Vaters, die unentwegt das Foto seiner beiden Kinder streichelte. Eine dunkle Ahnung beschlich den erfahrenen Kommissar. „Wo sind Ihre Kinder? Was wollten Sie mir mit dem Lebkuchenhaus andeuten?“
„Kann nichts sagen.“
„Hat Ihre Frau etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun?“
Der Vater weinte. Thomas wusste nun Bescheid.

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 


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