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Türchen 21 "Schneeflocke"


Der Wetterbericht

„Mama, darf ich?“, plappert Melanie los.
„Sei einen Moment noch ruhig. Ich will mir die Nachrichten ansehen.“
Melanie verschränkt die Arme und schaut trotzig auf den Boden.
„Am Ende unserer Nachrichtensendung kommt wie immer der Wetterbericht. Thomas, eine Frage, die ich dir nicht ersparen kann, wie sieht es dieses Jahr mit weißen Weihnachten aus?“, fragt der Nachrichtenmoderator.
Melanie dreht sich zum Fernseher und sieht gespannt darauf.
„Sehen wir uns das Wetter mal an. Die nächsten Tage zieht ein Hochgebiet vom Westen Richtung Osten und bringt Warmluft zu uns. Es wird für die Zeit zu mild. Bei uns wird es keinen Schnee geben. In den höheren Lagen gibt es aber noch eine Chance auf weiße Weihnachten. Aber nach Weihnachten wird es kälter und dann kann es auch bei uns schneien.“
„Ich will aber Schnee und einen Schneemann bauen. Ohne Schnee ist es kein richtiges Weihnachten.“ Eine Träne kullert Melanie der Wange hinab.
„Warte mal kurz. Ich hole etwas und dann lassen wir es schneien.“
Melanie sieht sie mit fragendem Blick an.
„Wir müssen vorsichtig sein.“ Mama packt aus einem schwarzen Karton eine Schneekugel aus.
„Die ist aber groß. Sieht die schön aus.“ Melanie macht große Augen.
„Wir nehmen sie gemeinsam und drehen sie einmal um und dann stellen wir sie wieder hin.“
Melanie umfasst das Glas mit den Händen und dreht es mit Mama um.
„Es schneit. Wie schön. Wir können es selbst schneien lassen.“ Melanie tanzt vor Freude im Kreis und klatscht in die Hände.

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 


 Lebensweisheit

Durch den Schleier ihrer Tränen erkannte Julia, dass sich jemand zu ihr auf die Parkbank gesetzt hatte. Eine ältere Dame bot ihr mit einem aufmunternden Lächeln ein Taschentuch an.
„Danke“, schniefte sie und warf einen verlegenen Blick auf die Unbekannte, während sie die Tränen trocknete. „Ich bin sonst nicht so eine Heulsuse“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch ihr Gegenüber winkte ab.
„Es ist besser, den Gefühlen freien Lauf zu lassen.“ Sie lächelte erneut. „Es geht um die Liebe, nehme ich an?“
Julia nickte nur, der Gedanke an Pierre und sein knappes ‚es ist vorbei‘ schnürte ihr die Kehle zu.


„Siehst du diese Schneeflocke?“ Die Unbekannte zeigte ihr das Ende eines dunkelblauen Wollschals, auf dem sich eine der sanft herabrieselnden Flocken niedergelassen hatte.

Als Julia nickte, fuhr sie fort: „Sie ist einzigartig in ihrer Form und Schönheit; es gibt auf der ganzen Welt keine zweite wie diese.“
Sie zog einen ihrer Handschuhe aus, schüttelte das zarte Gebilde auf ihren Handrücken, wo es zerschmolz.
„Mit der Liebe ist es ebenso“, sagte die Frau und betrachtete den klaren Wassertropfen, der übriggeblieben war. „Sie ist wunderbar und etwas Außergewöhnliches, aber manchmal bleibt man am Ende nur mit einer Träne zurück.“


Die beiden so verschiedenen Frauen saßen zusammen auf der Parkbank und sannen schweigend über das Leben und die Liebe nach.
„Aber weißt du was?“ Die Fremde breitete ihren Schal aus und fing Dutzende weiterer Flocken ein. „Sie ist überall um uns herum, und wenn eine Liebe vergeht, folgt auch wieder eine neue.“

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 


Die freche Schneeflocke

Es war einmal eine Schneeflocke, die den Chaos liebte. Wenn andere Flöckchen sich freuten, eine Landschaft weiß anzumalen oder den Kindern winterliche Freude zu bescheren, war es unserem Flöckchen ein besonderes Vergnügen, Eisflächen zu verbergen, damit die Leute auf den Hintern plumpsten, Äste so sehr zu beladen, dass sie unter der Last brachen und den Menschen auf den Kopf fielen. Er liebte es, Winterchaos anzuzetteln. Auf den Straßen war er eine besondere Plage. Ihn amüsierte es, die Verkehrswege derart zu verstopfen, dass es kein Vorankommen mehr gab. Er juchzte, wenn das Hupen losging, die Autos Blech an Blech vorwärts krochen. So auch in diesem Dezember. Ungeduldig saßen alle Schneeflöckchen im Himmel und warteten darauf, auf die Erde geschickt zu werden. Wie gehabt hatte sich unsere Schneeflocke bei jenen Flöckchen gesetzt, die auf die Autobahn landen sollten. Anders als sie lächelte er voller Schadenfreude.
„Was grinst du so frech? Wir waren dieses Jahr noch kein einziges Mal auf die Welt und die denkst schon daran, wie die Menschen zu ärgern.“
Schnneflöcken stemmte die kristallenen Arme in die Hüfte: „Die verdienen es. Ihre Klimaerwärmung hindert uns daran, nach unten zu fliegen. Tut es mir nach und hindert sie daran, ihre Autos zu nutzen.“
Betroffen sahen sich die Schneeflocken an. Niemand mochte den frechen Kerl besonders, aber in diesem Punkt mussten sie ihm recht geben. Wann hatte es zum letzten Mal eine weiße Weihnacht gegeben? Keine konnte sich daran erinnern.
„Lasst uns alle auf den Straßen landen! Aufstand der Schneeflocken!“

 

© 2020 Havenne Therese (Luxembourg)

 


Zum Dahinschmelzen

Familie Wasserdampf gehört zu den Großfamilien im Wolkenuniversum. Jetzt kriechen alle dicht aneinander, denn es wird immer kälter.
 
Sie spüren, dass ein neuer Lebensabschnitt bevorsteht, und keiner möchte alleine sein, wenn die Reise ins Ungewisse beginnt. Es bilden sich bereits die ersten Eiskristalle und die Kleinen klammern sich ängstlich an die Großen, die sie behutsam festhalten. Stolz blicken sie auf die stattliche Schneeflocke, die ihre Familienmitglieder gebildet haben. Jetzt geht es gleich los, denn das Gewicht zieht am Kristallstern. Die Kinder juchzen, als die Flocke abwärts trudelt, aber auch die Älteren haben ihre Freude daran.

Auf halber Strecke wird es wärmer und einer um den anderen verliert den Halt und löst sich aus der Zweckgemeinschaft. Als Wassermoleküle wirbeln sie hektisch umeinander und die Kleinen schreien panisch nach ihren Verwandten. Weil die Temperatur wieder sinkt, schnappen sich die Erfahreneren unter ihnen eins der Staubkörner, die es in der Luft reichlich gibt.
„Jetzt könnt ihr euch wieder an uns festhalten!“, rufen sie und bald hat sich eine neue Schneeflocke gebildet.

Es ist herrlich, durch die Luft zu schweben oder von einer Windbö wild durcheinandergewirbelt zu werden. Um sie herum wimmelt es von Gleichgesinnten. Sie nähern sich in formvollendeter Einheit dem Landeplatz. Deutlich ist eine große Wiese zu erkennen, deren Grün unter dem dichter werdenden Schnee langsam verschwindet. Die Landung steht bevor und alle machen sich bereit, in das Weiß der Schneeflocken am Boden einzutauchen.
 
Die Reise endet jäh, als sich die Kuh mit ihrer langen Zunge über die Nase fährt.

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


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